Der König von Sibirien (German Edition)
Innenseite bis zum Boden ablaufen konnte. Und genau unter der Öffnung in der Zeltspitze, oft hatte er im Liegen das kleine Stück Himmel angeschaut, befand sich eine aus runden Steinen eingerahmte Feuerstelle, die immer brannte und über der große Rentierstücke getrocknet wurden. Am Zeltrand bemerkte er zusammengerollte Felle, die Schlafstätten der anderen Ewenken, und etwas höher hingen geräuchertes Fleisch und daneben frisch gegerbte Häute, aus denen man Stiefel und Kleidungsstücke fertigte. In doppelter Lage erarbeitet, hielten sie laut Tarike viel besser warm als alle synthetischen oder aus Wolle hergestellten. Und die Felle seien sehr isolierend gegen die Kälte, dass ihre Stammesangehörigen auch im tiefsten Winter stets nackt schliefen.
Alexander war vor lagen sehr erschrocken, als er hörte, er sei auf einer Sowchose. Inzwischen aber hatte sich seine Aufregung gelegt, weil ihm Urnak verdeutlichte, dieser Betrieb sei nicht mit einem weiter im Süden oder Westen zu vergleichen und sie, die Ewenken, dürften ihre Eigenständigkeit behalten. Zwar gäbe es noch Einschränkungen, was die wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit anbelange, aber in einigen Jahren, zumindest hoffte das Urnak, sei man auch da bestimmt weiter. Einziges Eingeständnis an den Staatsapparat sei die Vorgabe an Tieren. Da aber die selbsternannten Experten in Moskau keine Ahnung hätten, sie hier vor Ort die Zahlen bestimmen und sogar eigene Rentiere besitzen dürften, gebe es keine administrativen Hemmnisse. Deshalb übe der staatliche Inspektor, der sich einmal im Jahr, immer im Sommer, wenn das Wetter angenehm sei, per Hubschrauber blicken lasse, nur eine untergeordnete Kontrollfunktion aus.
Alexander bewegte sich häufig zwischen den Zelten und vollführte sogar, von vielen Ewenken mit großen Augen bestaunt, gymnastische Übungen. Sein Fuß schmerzte immer noch, und auch das Schienbein meldete sich bei der Kälte. Tarike habe ihm verraten, dass man lange Angst um seine rechte Hand gehabt habe, sie sei schlimm vom Frost betroffen gewesen.
»Weil du den Handschuh ausgezogen hast, tadelte sie und lächelte.
Sie hatte ebenmäßige, weißgelbe Zähne, trug einen flachen, farbig bestickten Hut und darüber ein Kopftuch. Ihre Jacke war mit Stickereien verziert, und die Stiefel aus Fell waren eine handwerkliche Meisterleistung.
Sie führte Alexander zu den Renen, für die ihre Familie verantwortlich war. Wohl 500 Tiere, in einem großzügigen Areal eingepfercht, scharrten mit den Hufen und legten den Boden frei. Knapp 100 von ihnen seien im Privatbesitz.
Braun und weiß gemischt war das Fell der Rene, und die meisten, es gab in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, hatten ein ausladendes, wie zu einem Bumerang gebogenes Geweih mit vielen Enden an den Außenseiten. Die Kälber des Vorjahres konnte man kaum von den älteren Tieren unterscheiden, so kräftig waren sie bereits.
»Jede Familie bewirtschaftet einen Teil der Herde«, erklärte Tarike. »Das Vieh benötigt sehr viel Platz, um sich mit Futter zu versorgen. Deshalb müssen wir im Winter auch alle vier Wochen umziehen.«
Alexander war inzwischen kräftig genug, die Umgebung kennenzulernen. Gleich im Anschluss an die Zeltsiedlung erstreckte sich ein kleines Wäldchen mit Krüppelkiefern und kleinwüchsigen Lärchen, dahinter Tag der See.
Zwei Ewenken beobachtete er bei einem seltsamen Ritual. Sie gingen regelmäßig zu einem kleinen Hügel, steckten Zigaretten in den Schnee und legten Geschenke daneben. Alexander erfuhr auf Nachfragen, dass dort die Großväter der beiden begraben lagen und die Enkel sie für die lange Reise mit allen nötigen Dingen versorgten. Ihre Stammesgenossen weiter im Süden beerdigten die Toten zwischen aufgespalteten Stämmen, um so die Leichen vor wilden hungrigen Tieren zu schützen.
Die Speisekarte der Ewenken war reichhaltiger, als Alexander zuerst dachte, und sie ernährten sich keineswegs nur von Rentieren. Es gab getrockneten Lachs, im Sommer zog man ihn zentnerweise aus den Flüssen, Fleisch von erlegten Füchsen und Birkhühnern, Gemüse aus Dosen und im Winter frisch gefangene Fische aus dem See. Stundenlang konnten die Nomaden über dem Eisloch hocken und mit der selbstgefertigten Harpune in der Hand warten.
Die Ewenken nahmen Alexander mit auf die Jagd. Viele von ihnen benutzten aas Tradition noch einen Bogen, aber ersatzweise nahmen sie stets ein Gewehr mit. Alexander kam in einen Schlitten ohne
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