Der König von Sibirien (German Edition)
Kufen zu sitzen, der voll auf dem Boden auflag, ähnlich wie ein Boot im Wasser. Andere hatten welche aus Birkenholz mit vorne hochgebogenen Kufen, und nur wenig Zentimeter darüber befand sich die Sitzfläche aus Fell.
»Damit der Schwerpunkt tief ist«, erklärte ihm Urnak. Alexander fragte nicht nach, wieso diese jahrhundertealte Tradition beim Bau von Schlitten schon den Schwerpunkt berücksichtigte.
Erlegten die Ewenken ein Tier, ob Wolf, Wildfuchs, Zobel oder Schwarzbär, dann zerlegten sie es an Ort und Stelle und aßen, einem alten Ritual entsprechend, gemeinsam die rohe Leber.
Aus dem Schlachten eines Rens machte man im Winter, in Ermangelung anderer Aktivitäten, ein Ritual. Beobachtet von vielen Stammesangehörigen, darunter auch etlichen Kindern, stach ein Ewenke mit einem spitzen Dorn dem Ren gleich hinter dem Ohr ins Gehirn. Das Tier taumelte, fiel zu Boden, zuckte noch einige Male und war tot. Zuerst zog man ihm das Fell ab, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Weiß Tag der Tierkörper wenig später auf dem Boden. Anschließend wurde die rohe Leber herausgeschnitten, verteilt und in kleinen Stückchen gegessen.
»Im Winter und Frühjahr lassen wir uns beim Schlachten Zeit«, erklärte Urnak. »Aber im Herbst, wenn der erste Frost einsetzt, muss alles schnell gehen. Wir treiben die Rentiere auf einen eingezäunten Platz und bringen sie zum Kreisen, immer rechts herum.«
»Warum nicht in die andere Richtung?«
»Das Blut in unserem Körper kreist auch rechts herum.«
Als Alexander nichts zu entgegnen wusste, sprach Urnak weiter: »Oft siehst du nichts vor lauter aufgewirbeltem Staub, sogar die Sonne scheint frühzeitig unterzugehen. Und das laute Klicken der aneinanderschlagenden Geweihe übertönt jedes Wort.«
Wenn man einen Bock ausgewählt habe, dann werde dieser mit einem Lasso eingefangen und aus der schneller drehenden Herde gelöst. Dazu seien mehrere Männer nötig, die sich am Ren festklammerten oder auf seinen Rücken sprangen. Schließlich werde der Bock zu Boden gedrückt, und einer der Ewenken steche ihm zwischen die Rippen genau ins Herz. Dem röchelnden Tier halte man Mund und Nase zu, die weitaufgerissenen Augen quöllen aus den Höhlen. Noch ein letztes Aufbäumen, dann sei das Ren tot. Derjenige, der es erlegt habe, trinke Wasser und besprenge anschließend Messer und Wunde, um die Tierseele um Vergebung zu bitten.
»Unsere Frauen ziehen das Fell ab, andere schöpfen das Blut aus dem Brustraum der Tiere, Männer zerlegen das Fleisch und stapeln es. Und wenn wir unser Plansoll erfüllt haben, dann veranstalten wir ein großes fest, essen gepflückte Beeren und Lachs, dazu frischen Kaviar mit Salz und das gebratene Fleisch von Rentieren, Kormoranen oder Kranichen.
Einmal alle 14 Tage landete ein Propellerflugzeug – unter den Rädern waren große Kufen montiert – auf einer notdürftig präparierten Piste. Es kam aus dem gut 200km entfernten Wolotschunka und versorgte die Ewenken mit den nötigsten Dingen, darunter auch Medikamente, ältere Zeitungen und eine Menge Wodka. Im Gegenzug beluden einige Stammesangehörige den kleinen Frachtraum mit gefrorenem Rentierfleisch, das abseits der Zelte im Schnee gekühlt worden war. Wenige Stunden später und nach einem ausgiebigen Palaver flog der Pilot mit der schwer beladenen Maschine wieder zurück.
Jeden Abend versammelten sich die Männer des Dorfes um ein kleines Feuer und ließen, als Zeichen der Zivilisation, die Wodkaflasche kreisen. Früher stellten sie den Alkohol selbst aus Beeren her, jedes Dorf nach einem eigenen Rezept.
»Ich verstehe nicht, wie ihr alle ruhig und ausgeglichen sein könnt«, sagte Alexander zu Urnak. »Ihr lebt so weit abseits jeder Zivilisation, in einer Kälte-und Eiswüste, und dann diese … Ruhe.«
Urnak schaute ihn von der Seite an. »Wir warten.«
„ Auf was?«
»Auf das, was uns das leben bringt.“ Urnak lächelte und zeigte eine Zahnlücke. Er war kaum älter als Alexander. »Wie ist es mit dir?«
»Ich erwarte vom leben ur noch den Tod“, entgegnete Alexander unnatürlich ernst. »Und viele seiner Vorstufen habe ich bereits kennengelernt.«
Yokola, der Fährtensucher und Lebensretter, wolle von dem Jüngeren wissen, was Alexander gesagt habe. Er übersetzte, und dann begann Yokola: »Ich habe dich nicht gerettet, damit du auf den Tod wartest.«
Alexander fühlte sich an sein Versprechen gegenüber Rassul erinnert.
»Das Leben ist ein Geschenk«, sprach Yokola weiter. »Jedes
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