Der König von Sibirien (German Edition)
werden, liebst du das Unstete, das Abenteuer und das Risiko. Du wirst zum Spieler. Und der Einsatz ist verdammt hoch: dein Leben.«
Alexander war die Unterhaltung unangenehm, weil Antropowitsch Recht hatte War er nicht schon oft genug bereit gewesen, Dinge zu tun, die anderen viel zu gefährlich waren?
»Arbeitest du immer noch als Ingenieur?« fragte Alexander.
»Ja, und zwar beim Staat. Was glotzt du so verwundert?«
»Aber du warst doch auch in Lager ...«
Antropowitsch grinste. »Ja, weil ich gegen Stalin und dessen Misswirtschaft gewettert habe. Aber nach seinem Tod war ich plötzlich ein Held. So schnell kann das in unserem Land gehen. Erwarte nie Beständigkeit in der Politik und von den Regierenden.«
Nach einigen Stunden hatten die beiden Männer das Gefühl, sich schon länger zu kennen. Klimkow war eine Art Eintrittskarte für gegenseitige Offenheit und Vertrauen.
Alexander verabschiedete sich von Viktor und sagte, er würde morgen gerne wieder zu ihm kommen. Das müsse er auch, meinte dieser, denn jetzt die Unterlagen zu besorgen, das gehe nicht. Sie seien sicher deponiert.
Nur für einen Augenblick blitzte in Alexander der Verdacht auf, Antropowitsch könnte ihn hintergehen und den Behörden ausliefern. Immerhin stand er selbst im Dienste des Staates, außerdem war der Vorfall mit dem riesigen Blatnoij schon viele Jahre her. Menschen ändern nun mal sich selbst und ihre Einstellung. Aber dann hätte Klimkow mir doch nicht sein Erbe vermacht und Antropowitschs Namen genannt, beruhigte er sich.
Am kommenden Tag suchte Alexander den Ingenieur erneut auf. Während der einen starken Mokka braute, berichtete er, vor Jahren beim Aufbau einer geheimen staatlichen Einrichtung mitgeholfen zu haben. Plutonium werde jetzt dort hergestellt, für den Bau von Atombomben, von vielen tausend Atombomben. Um möglichst schnell und viel Plutonium zu gewinnen, damit man dem Erzfeind Amerika ebenbürtig sei, vernachlässige man alle Sicherheitsvorkehrungen. Die Strahlung sei dreimal höher als erlaubt, alle fünf oder sechs Monate komme es zu einem Unfall. Zwei Mitarbeiter seien so schwer verseucht worden, dass man sie in ein Spezialkrankenhaus nach Nowosibirsk habe bringen müssen.
»Arbeitest du immer noch dort ...?«
Antropowitsch schüttelte den Kopf. »Schon lange nicht mehr. Ich gehöre zum Ingenieurteam eines Walzwerkes. Bei uns geht es geruhsam zu.« Nach einigen Sekunden griff er den Gesprächsfaden wieder auf.
»Aber das war damals noch human, verglichen mit dem, was sie jetzt in Planung haben. Tomsk-7, so lautet die interne Bezeichnung für die Anlage innerhalb einer geschlossenen Stadt, wird um einiges größer. Der Wahn nimmt zu.«
»Welcher Wahn?«
»Der des Gigantismus. War haben in unserem Land nur Männer an der Regierung, nicht nur in Moskau, sondern überall, die von diesem Wahn infiziert sind: die höchsten Staudämme, die längste Bahn, das gigantischste Walzwerk. All das akzeptiere ich ja noch. Aber nicht mehr die größten Atomkraftwerke, weil es gleichzeitig auch die unsichersten sind. Dann sollen die größte Plutoniumfabrik her und natürlich die dickste Atombombe. Wir bauen den schwersten Panzer, produzieren die stärkste Rakete und werden auch noch den größten Krieg hinbekommen. Zugleich auch den letzten.«
Antropowitsch schüttelte verbittert den Kopf. »Was treibt die Herrschenden zu diesem Wahn? Ist es die Angst, bei weniger versagt zu haben? Oder brauchen sie stets einen Feind wie die USA, um sich an ihm zu orientieren? Um dem Land immer neue sinnlose Opfer abzuverlangen?«
Alexander hatte sich noch nicht damit beschäftigt.
»Und was machen wir, wenn es, egal aus welchem Grund auch immer, diesen Feind nicht mehr gibt? Müssen wir ihn nicht künstlich am Leben erhalten? Oder bauen wir uns dann einen neuen auf?« Der Bärtige erwartete keine Antwort. »In Moskau werden Pläne durchgespielt, die sibirischen Flüsse aufzustauen und rückwärts fließen zu lassen. Hinein in die Trockenregionen Kasachstans, auf dass sie grün werden und gedeihen. Wenn ich jedoch im Geschäft Fleisch kaufen will, ist keines da, ganz zu schweigen von Obst. Aber Flüsse rückwärts fließen hissen, das verstehe ich unter diesem Wahn.«
Antropowitsch, im Dienste des Staates, schimpfte auf diesen und den Bürokratismus, der alles hemme. Weil Wahn und Feigheit Partner seien. Jeder habe Angst, einen Fehler zu begehen. Deshalb baue man so viele Regularien ein, damit man sich immer auf sie berufen und
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