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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Körper.
    Der Zug fuhr schließlich mit Verspätung los. Alexander lief einige Meter vorneweg und sprang dann auf einen Puffer. Sozialismus, das bedeutet Diktatur des Proletariats plus Elektrifizierung des Landes: Alexander war froh, dass Lenins Forderung sich noch nicht vollständig erfüllt hatte, denn seine Lokomotive war eine dampfbetriebene mit genügend Platz und einer schmalen Plattform hinter den Puffern. Allerdings war es durch den Fahrtwind verdammt kalt, aber das kannte er ja zur Genüge aus der Vergangenheit.

    Beim nächsten Halt, Alexander wusste nicht, wie lange er auf seinem Fluchtplatz ausgeharrt hatte, ließ er sich einfach auf der dem Bahnhof abgewandten Seite in den Schnee fallen. Um sich aufzurichten, war er zu sehr eingefroren, die Muskeln steif und nicht zu kontrollieren. Vorsichtig versuchte er sich im Liegen zu strecken. Der Zug fuhr an, und Alexander sah zwischen den Rädern hindurch einige Milizionäre im Bahnhofsgebäude verschwinden. Er wartete noch einige Sekunden, krümmte sich am Boden, stemmte sich hoch und kam langsam auf die Knie. Der Oberkörper war ein einziger Eispanzer, Beine und Arme taub, alles taub. Sein Gesicht kam ihm vor, als sei es in einer Folie eingeschweißt und stundenlang in einem Gefrierfach deponiert gewesen.
    Neben sich hörte er Schritte im knirschenden Schnee. Alles umsonst, sie hatten ihn also doch noch entdeckt. Alexander, den schlagartig Resignation überflutete, fühlte sich hochgehoben, gleich darauf wurde er in ein Auto gelegt, das sofort anfuhr. Kein lautes Wort war zu hören, kein Gewehrkolben traf ihn in die Seite, aber den hätte er sowieso nicht mehr gespürt. Das Fahrzeug hielt, starke Hände trugen Alexander - der sich zu wundern begann, nie und nimmer ging die Miliz so fürsorglich mit einem Gesuchten um - in ein Haus und weiter in den ersten Stock. Aus den Augenwinkeln bekam er die Inneneinrichtung mit. Gefängnisse sahen anders aus.
    Die gleichen Hände entkleideten ihn, legten ihn auf ein Bett und begannen seinen Körper zu massieren und anschließend mit Alkohol einzureiben. Und sie massierten weiter und weiter, keine Muskelfaser entging ihnen. Allmählich kehrte das Gefühl zurück. Sein Blut begann zu zirkulieren und war mit unendlich vielen Nadelspitzen angereichert, die pieksten und kribbelten. Übergangslos begann alles zu jucken und zu brennen. Ein Heer von Ameisen biss sich in ihm fest, es war nicht mehr auszuhaken.
    Aber Alexander, der sich aufbäumte und der Plagegeister erwehren wollte, konnte nicht aufstehen, die Hände drückten ihn unerbittlich auf das saubere Laken. Als wohltuend empfand er die kalten Tücher, in die man ihn schließlich einwickelte. Nach wenigen Minuten begann die nächste Prozedur mit Alkohol. Kurz darauf rieb man ihn ab. Seine Haut wurde mit einer Salbe behandelt und unter dickem Bettzeug verstaut. Die seltsame Zeremonie war ohne ein Wort abgelaufen.
    Obwohl sein Körper immer noch der Wallfahrtsort für alle möglichen Krabbelgeister zu sein schien, rührte Alexander sich nicht. Schuld daran war ein älterer Herr, der neben seinem Bett saß und ihn anschaute, immer nur anschaute.
    »Gefalle ich dir nicht?«
    Der Angesprochene, er kam Alexander wegen seines Erscheinungsbildes fremd vor, schwieg. Gut gekleidet war er, trug eine teure Lederjacke und eine maßgeschneiderte Hose. Am meisten wunderte sich Alexander über die Schuhe. Feines, mittelbraunes Leder mit einer dünnen Sohle, und das im November.
    Der Grauhaarige schaute auf die Uhr. Alexander hatte eine solche noch nie gesehen, auch nicht die Brille, die so ganz anders wirkte als das für alle möglichen Härtefälle konstruierte sozialistische Einheitsmodell. Leicht geschwungene Bügel und obendrein aus Gold, zu allem Überfluss waren die Gläser unten noch nicht einmal eingefasst.
    »He, was ist denn?«
    Der Fremde lächelte, griff neben sich und hielt Pagodins Pistole in der Hand. »Hiermit wäre es einfacher gewesen, sich umzubringen.«
    »Ich will mich nicht umbringen.«
    »Wer bei minus zwanzig Grad mehr als vierzig Kilometer vorne auf der Lokomotive von Kansk nach Poima fährt, will sich umbringen.«
    Lange schauten sich die beiden Männer an. Auf gut sechzig schätzte Alexander sein Gegenüber. Ebenmäßige Zähne, sehr gepflegtes Erscheinungsbild, ein Auserwählter. So bezeichnete man eine bestimmte Kaste von Politikern und Privilegierten, das konnten Künstler sein, auch Wissenschaftler und Experten, die alles vom Staat erhielten, jede

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