Der König von Sibirien (German Edition)
Zuschauer diesen Anblick nicht länger ertragen mussten. Noch geschockt von dem Erlebten, machten sie sich auf den Heimweg. Der Gesprächsstoff für die kommenden Wochen würde ihnen nicht so schnell ausgehen.
»Das Ganze ist irregulär«, tobte der Sprecher. »Dieser verdammte Lenin ist viel zu früh abgetaucht. Irregulär.«
Aber die Kampfrichter machten ihn darauf aufmerksam, dass die Regel besagte, wer als letzter weg springe und unverletzt bleibe, sei der Sieger. Und Lenin sei nun mal unverletzt. Als letzter weg gesprungen sei er auch.
»Aber weil er sich so früh verpisst hat, ist Kyrill irritiert worden. Das hat doch jeder gesehen. Lenin, der Scheißkerl, hatte doch die Hosen voll.«
Ein älterer Mann trat hinzu. »Ich habe auf Lenin gesetzt. Mein Geld bitte.« Er legte den Wettschein auf den Fisch.
Der Sprecher und Organisator sträubte sich, aber die drei Kampfrichter waren der Auffassung, Lenin habe gewonnen. Und wegen des Zuckens solle doch der Organisator bitte Kyrill fragen, ob es ihn gestört habe.
Wutschnaubend zahlte der Organisator fünfzigtausend Rubel aus. Anschließend trat er zu Lenin.
»Junge, willst du nicht für mich arbeiten?«
Lenin sah ihn verächtlich an und wandte sich ab.
»Und wo bleibt die Dankbarkeit?« kreischte der Organisator.
Lenin, in eine Decke gehüllt, trank heißen Tee. Über das Glas beobachtete er den älteren Mann, der auf ihn zusteuerte.
»Ich habe es gewusst«, begrüßte ihn dieser.
»Du schon wieder?«
Alexander trank den Tee in kleinen Schlucken. Er tat gut, und er beruhigte die Nerven. Kein schöner Anblick vorhin, Kyrill zwischen den Puffern. Und dann das schmatzende Geräusch und die Blutspritzer. Er hatte einige abbekommen.
»Angst oder Berechnung?«
Alexander stellte sein Glas ab und zog die Decke enger um den Oberkörper. »Ich kenne mein Limit.«
»Das ist gut. Angst ist auch gut, wenn sie einem hilft. So wie in deinem Fall.«
»Ich habe keine Angst.«
Der Ältere starrte ihn nachdenklich an. »Dann würdest du nicht mehr leben.«
Nikolai lud Alexander zum Essen ein. Der Jüngere gab zu bedenken, es sei doch schon sehr spät, um diese Uhrzeit gebe es nichts mehr. Dann solle er sich doch einfach überraschen lassen, meinte der Ältere. Alexander staunte nicht schlecht, denn Nikolai führte ihn in eines der unscheinbaren Lokale, zu denen nur hochstehende Persönlichkeiten, Politikprominenz oder westliche Touristen Zugang hatten. Von außen war es ein schlichter Holzbau, etwas größer vielleicht als andere, mit Klappläden vor den Fenstern und einem tief heruntergezogenen Dach. Innen jedoch erwarteten ihn ein gepflegter und das Licht spiegelnder Parkettboden, gepolsterte Stühle und Tische mit Decken: zuunterst dunkelrot und darauf weiße Sets mit Spitzen. An jedem Platz standen mehrere verschieden große Gläser, in denen das Licht funkelte, nicht zu vergessen die vielen Gabeln, Messer und die zwei Löffel. Zwischen den Gedecken hatte man Blumen in schlanken Vasen und in einer flachen Schale arrangiert. Blumen in Sibirien, und das mitten im Winter. Zaghaft berührte Alexander eine Rose.
»Ich wusste nicht, dass es so etwas überhaupt in Irkutsk gibt«, murmelte er, während er sich vorsichtig auf den geschwungenen Stuhl setzte. Ob er sein Gewicht verkraftete? Dann blickte er sich um. »Sehr schöne Einrichtung.«
»Vier dieser nur für wenige zugänglichen Restaurants kann die Stadt vorweisen. Und wer bezahlen kann, darf mitten in der Nacht erscheinen.«
»Mit Dollar, nehme ich an.«
»Selbstverständlich. Indem wir den Kapitalisten ihr Geld nehmen, höhlen wir deren System aus. Kapitalismus ohne Geld geht nun mal nicht. So einfach ist das.«
Sie lachten, während eine junge Frau die Kerzen anzündete. Alexander aß an diesem Abend Köstlichkeiten, die er nicht einmal dem Namen nach kannte.
»Die Franzosen wissen, was Esskultur bedeutet«, verdeutlichte Nikolai. »Auch wenn der Lachs aus unseren Gewässern stammt, wir haben eben den besten. Das gleiche gilt für den Kaviar. Der
Stör schwimmt im Wolgadelta, wo man ihn seines zarten Fleisches wegen abfischt. Maiheringe, Barsch, Güster und Zander, allesamt kulinarische Genüsse, wenn man sie richtig zubereitet, stammen ebenfalls aus der Region. Mit französischen Namen versehen, schmeckt alles viel aufregender und ist außerdem um ein Mehrfaches teurer.«
Nikolai bestellte Zigarren und für Alexander einen Mokka. Alexander deutete auf die kleine Tasse. »Noch nicht vergessen?«
Sie
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