Der König von Sibirien (German Edition)
Mittelsibirien, dazu fehlte ihm die Motivation.
Alexander hatte das Gefühl, als sei er aus sich herausgetreten und gehe traumwandlerisch neben sich einher. Er wirkte apathisch und desinteressiert, wenn Mitarbeiter sich an ihn wandten. »Frag Leonid«, war seine stereotype Antwort. Oder: »Geh zu Minsk.«
Verhandelte er mit Geschäftspartnern, dann schrak er zwischendurch auf, weil ihm Passagen entgangen waren. Sich entschuldigend, verließ er den Konferenzraum, steuerte auf die Toilette zu und wusch sich. Sein Gesicht im Spiegel - die dunklen Ringe unter den Augen und der gequälte Ausdruck, verstärkt durch die tief eingegrabenen Falten - gab seinen Gemütszustand wieder. Aber mit kaltem Wasser konnte er diesen nicht verscheuchen.
»Alexander, ich habt Angst um dich.« Leonid nahm den Freund auf die Seite.
»Ich selbst auch. Aber glaube mir, ich kann nichts unternehmen.«
»Du musst ...«
»Ich muss die Vergangenheit bewältigen. Klar, es auszusprechen ist einfach. Aber in mir drin ist eine Leere, eine Unrast, sind Unsicherheit und Schmerz. Ich weiß nicht, wie ich dagegen ankämpfen soll.«
»Was ist, wenn du einige Zeit ausspannst?«
Sie wanderten auf einem schmalen Waldweg. Der Boden glänzte feucht und weich von der Frühjahrssonne. Aber im Schatten war es immer noch recht kühl.
»Larissa und die Kinder sind jetzt mehr als ein halbes Jahr tot. Du brauchst Ablenkung.«
Alexander stimmte zu. »Ja, ich werde mich neu besinnen müssen. Ich gehe für einige Monate zu den Ewenken.«
Tarike war längst verheiratet, etwas in die Breite gegangen und hatte vier Kinder. Der älteste Sohn war zehn Jahre alt, und Urnak, der mit den drei Bärentatzen, inzwischen Großvater geworden. Yokola, der Fährtensucher und Saman, der Alexander vor vielen Jahren im Schnee entdeckt hatte, lebte auch noch und war trotz seines Alters erstaunlich rüstig. Wie alt er jedoch genau war, wusste er nicht. Allerdings war Yokola seit mehreren Monaten geistig abwesend und kaum noch ansprechbar. In ihm wohne schon lange ein besonderer Geist, erklärte Urnak.
»Wann ist der Geist eingezogen?«
»Kurz nachdem du weggegangen bist. Immer wieder begann Yokola von dir zu sprechen und von der Verpflichtung, die er nun mal dir gegenüber habe, weil er dein Leben rettete. Aber er fühlte sich der selbst gestellten Aufgabe nicht gewachsen, sprach von Gefahren, denen sein zweites Ich, damit meinte er dich, ausgesetzt sei, wahrend er nur tatenlos zuschauen könne. Yokola litt, träumte nachts und wanderte tagsüber ziellos umher. Manchmal zuckte er, wenn wir alle ums Feuer saßen, unvermittelt zusammen. >Er ist in Gefahr<, sagte er dann. >Er spielt mit seinem Leben und ist sich selbst nichts mehr wert. Wenn er stirbt, dann sterbe auch ich.«<
»Seit wann ist er so sonderbar?«
»Verwirrt ist das richtige Wort.« Urnak überlegt. »Es müssten jetzt sieben Monate her sein. An einem Mittwoch begann alles.«
An einem Mittwoch, durchzuckte es Alexander. An einem Mittwoch vor sieben Monaten ist meine Familie umgebracht worden. Jetzt weiß ich auch, warum nicht ich verrückt geworden bin.
Alexander ging zu dem alten Ewenken, aber der sah durch ihn hindurch und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.
»Yokola, erkennst du mich?«
Der Alte zeigte keine Reaktion.
»Du hast mir das Leben gerettet.«
Yokolas Blick suchte die Unendlichkeit.
Alexander öffnete die Kapsel auf seiner Brust und zog ein Büschel Haare hervor. Er hielt es dicht vor Yokolas Augen.
Der Ewenke erblickte die schwarzen Haare, starrte lang darauf und umfasste Alexanders Oberarme, wie er sie vor vielen Jahren zum Abschied umfasst hatte. Dann sah er ihn an. »Ich bin deine Seele, und deine Seele leidet.«
»Ich leide auch.«
Yokola erinnerte sich jetzt vollständig an Alexanders ersten Aufenthalt und begann vom großen Licht, vom Kosmos und von Gott zu sprechen, wobei er jedoch nie eine Person meinte, sondern das Bündel der Lichter im Universum. Sie seien die wahre Macht, die wahre Religion und die wahre Größe. »Wie sonst können sie so weit weg von uns sein, und trotzdem sehen wir sie?«
Alexander wusste keine Antwort.
Yokola, dessen Augen die ganze Zeit auf den Horizont gerichtet gewesen waren, schaute Alexander an. »Ich freue mich, dass du noch lebst. Du hast dich als würdig für das Geschenk des Lebens erwiesen.«
»Und warum leidest du dann?«
»Leidet nicht immer ein Vater mit seinem Sohn, egal, was er auch tut? Hat er nicht die Verpflichtung, alles
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