Der König von Sibirien (German Edition)
Unheil von seinen Kindern fernzuhalten?«
Alexander war von den schlichten Worten ergriffen. »Du hast mir das Lehen geschenkt, du bist mein Vater. Deshalb bin ich also in deinen Augen würdig?«
Der Alte nickte.
»Yokola, kann ein Mensch innerlich verbrennen?«
»In dir geht etwas Schlimmes vor, ich fühle es. Ich fühle es seit langem.«
»Meine Familie ist tot. Mein Glaube sagt mir, Gott wird die Bösen auf ewig zu unsagbaren Qualen verurteilen. Damals, vor vielen Jahren, hast du gesagt, es gibt keine Hölle. Aber ich will die Bösen in der Hölle sehen.«
»Gott quält nicht, Gott erzieht, so wie wir unsere Kinder erziehen.«
»Yokola, ich habe Angst davor, dass du recht hast.«
»Wieso?«
»Das würde bedeuten: Meine Frau und die Kinder begegnen irgendwann ihren Mördern.«
Yokola grübelte, denn mit dieser Konstellation war er noch nicht konfrontiert worden. »Gott wird es schaffen, sie zu verändern. Durch seine Liebe.«
»Und was ist, wenn ich die Mörder im Himmel treffe? Nicht, dass ich ein Recht habe, dorthin zu gelangen. Aber was ist, wenn ich sie treffe?«
»Die Liebe hat sie verändert.«
»Aber ich habe mich nicht verändert. Und in mir ist Böses.«
»Du fürchtest dich vor dem Feuer in dir das frisst und frisst.« »Ja.«
»Entweder frisst es dich auf, oder du schaffst es, deinem Leben einen neuen Sinn zu geben.«
»Ich spreche nicht vom Leben, sondern vom Tod und danach.« »Dazu hast du letzt noch kein Recht.«
»Ich lebe nicht wirklich - und die Ungewissheit macht mir so zu schaffen.«
Als sie an einen Punkt angelangt waren, den Yokola mit seiner Philosophie offenbar nicht mehr erfassen konnte, stand er einfach auf. Seine Welt und seine Religion waren unkompliziert, eine Anleitung zum praktischen Leben in der Einsamkeit. »Sich eines Geschenkes würdig zu erweisen, heißt auch, es zu pflegen und zu hüten. Du musst dein Leben pflegen und hüten, nur so kannst du das Feuer löschen.«
Yokola sah Alexander kurz an, dann verlor sich sein Blick wieder in der Unendlichkeit.
Obwohl er lange mit Tarike sprach, war ihr Mann, nachdem er die Vorgeschichte erfahren hatte, nicht eifersüchtig.
»Warum bist du bei deinem Volk geblieben?«
Tarike lächelte immer noch bezaubernd, und von ihr ging eine Jugendlichkeit aus wie vor vielen Jahren. »Hier ist mein Platz, warum sollte ich ihn verlassen.«
»Bist du glücklich?«
»Hier ist mein Platz.«
»Hast du nie das Bedürfnis gehabt, woanders hinzugehen?« »Doch.«
»Und warum hast du es nicht getan?«
»Weil du mich nicht wolltest.« Vor so viel Offenheit schämte sich Alexander. »Warum bist du zu uns gekommen?«
»Ich will mich finden.«
»Wer seine Familie verliert so wie du, der verliert auch sich selbst.«
»Genauso fühle ich mich.«
Alexander fand die Abgeschiedenheit beruhigend und dämpfend. Zwar gelang es ihm nicht, seine Gedanken frei zu machen von den schrecklichen Ereignissen, aber die Ewenken zeigten ihm in ihrer Natürlichkeit, dass man auch andere Schwerpunkte setzen konnte, um glücklich zu sein. Oft war er mit Urnak unterwegs. Stundenlang wanderten sie nebeneinander, ohne ein Wort zu sagen. Und jeder Schritt, so kam es Alexander vor, war für ihn ein Schritt neuer Selbstfindung.
»Yokola sagt immer, das Leben bestehe nur aus Prüfungen und wir hätten uns ständig zu bewähren. Erst dann erwiesen wir uns als würdig.«
»Was aber ist, wenn die Prüfungen unwürdig sind?« wollte Alexander wissen.
»Das ist nie der Fall. Es kommt immer darauf an, wie du es siehst. Erst durch deine Denkweise werden sie unwürdig.«
Urnak machte es sich aus Alexanders Sicht einfach. »Was wäre, wenn man deine Familie getötet hätte, so wie es mir widerfahren ist? Getötet von heimtückischen Mördern?«
Urnak zuckte die Achseln.
»Würdest du versuchen, sie zu rächen?«
»Yokola sagt, es darf keine Rache geben «
»Ich will wissen, was du sagst. Ich will wissen, was du fühlst, wenn man ein Stück deines Herzens herausgerissen hat. Das größte Stück.«
Urnak schwieg und stapfte weiter.
»Dein Enkel Cidar, an dem du so hängst. Wie alt ist er jetzt?« »Zwei Jahre.«
»Stell dir vor, jemand tötet ihn, weil er dich treffen will, es ein Verbrecher in Wirklichkeit auf dich abgesehen hat.«
Urnak senkte den Kopf, in seinem Gesicht arbeitete es. Alexander blieb stehen und packte den Ewenken an den Schultern. »Ich will eine Antwort«, schrie er. »Gib mir eine Antwort.«
Gefährlich zischend und mit schnell
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