Der König von Sibirien (German Edition)
der sozialistischen Wirtschaftsform.«
»Aber der Erfolg spricht für Sie.«
»Darf ich bei Erfolg Gesetze und Bestimmungen verletzen?«
Kosyrew überlegte. »Ja, das moralische Recht dazu haben Sie.«
Alexander blickte seinen Besucher erstaunt an.
»Wenn Sie im Sinne der Bevölkerung und im Sinne des Staates handeln«, fügte Kosyrew hinzu.
»Seltsame Begründung. Unsere Gefängnisse sind voll von Leuten wie mir.«
Kosyrew lächelte. »Das sind Schieber, die nur genommen und den Staat bestohlen haben. Wir sperren keinen ein, der wesentlich mehr gibt, als er nimmt, der praktisch auf kapitalistische Art einen Kredit aufnimmt, um auf sozialistische Art den Plan zu erfüllen.«
Trotzdem lehnte Alexander ab.
Kosyrew wurde eindringlicher. »Sie sind ein Patriot.«
»Ich bin Wolgadeutscher, wie Sie bereits erwähnten, und war ein Feind des Landes.«
Kosyrew schüttelte den Kopf. »Nein, Alexander Gautulin, das waren Sie nie.«
Alexander zuckte zusammen. Woher konnte der Wirtschaftsexperte aus Moskau seinen richtigen Namen kennen?
Kosyrew gab ihm keine Gelegenheit, lange darüber nachzudenken. »Ich will Ihre Entscheidung nicht heute, Herr Gautulin ... Herr Koenen. Damit Sie sich ein Bild vom Land machen können, überlasse ich Ihnen einen geheimen Report, der die Zustände schonungslos schildert. In diesem Zusammenhang hätte ich nur eine Bitte: Kommen Sie mal nach Moskau, um zu sehen, wie sich die Stadt verändert hat.« Alexander zögerte.
»Wann waren Sie zum letzten Mal dort?«
»Vor mehr als zwanzig Jahren.«
»Sie werden unsere Metropole nicht wieder erkennen.«
Woher kennt Kosyrew meinen richtigen Namen? Permanent stellte er sich diese Frage. Leonid fand auch keine Antwort, aber es gelang ihm zumindest, Alexander zu beruhigen: »Wenn sie dich einsperren wollten, dann hätte er dir nicht erst das Angebot unterbreitet. Die wollen nicht den Sträfling Gautulin, sondern Robert Koenen, den Wirbeler und Cheforganisierer von Mittelsibirien.«
Der Report, den Kosyrew ihm überlassen hatte, war niederschmetternd, die Lage im Land schlimmer, als es sich Alexander, immerhin ein interner Kenner des Zustandes, vorgestellt hatte. Sogar Milch gab es teilweise nur auf Rezept eines Arztes, und zwar einen Liter pro Tag, solange das Kind noch nicht ein Jahr alt war. Zweijährige erhielten bloß die Hälfte.
Missernten wegen Wetterkapriolen, so lautete das Schlagwort, mit dem man in der Landwirtschaft alles zu umschreiben versuchte. Dabei handelte es sich um Fehleinsehätzungen und um die Unfähigkeit, das Getreide zum richtigen Zeitpunkt einzufahren. Mehr als dreißig Prozent gingen durch das Nichternten, Verfaulen, durch Ratten und Mäuse und vieles andere mehr verloren. Die fehlende Menge musste gegen Devisen, die man für wichtigere Dinge benötigt hätte, im Ausland eingekauft werden. Würde einmal rechtzeitig geerntet, dann verrottete das Korn auf den Sammelstellen, weil es nicht genügend Lagerraum gab.
Gründe für die Missstände wurden auch genannt: die unflexible Planung, der unangemessen hohe Verschleiß der Maschinen, die schwerfällige Organisation und der Instanzenweg, den jeder einhielt, um sich nach oben hin abzusichern. Lieber das richtige Formular ausgefüllt, so lautete ein ironischer Kommentar, als die richtige Entscheidung gefällt.
Sowchosen, Kolchosen und Fabriken orderten die doppelte
Menge der benötigten /Maschinen, Traktoren, Mähdrescher, Lkw und Autos. So hatten sie immer eine Reserve von hundert Prozent, ihr Ersatzteillager, das sie nach Bedarf ausschlachteten. Da jedoch nicht alle die doppelte Anzahl zugeteilt bekommen konnten, im Plan war eine solche Produktionsmenge zur Hortung selbstverständlich nicht vorgesehen, verschwanden die hochwertigen Geräte einfach auf dem Transport. Je länger der Weg, desto weniger bis gar nichts gelangte zum Zielort. An einem Beispiel, das Kosyrew ausgewählt hatte, wurde dargelegt, dass von 3100 Traktoren am Ende der Reise keine 500 einsatzfähig waren. Mehr als 2500 verschwanden unterwegs oder wurden von Sowchosen und Kolchosen geplündert.
Wie ein roter Faden zog sich die Fehlorganisation, das eigentliche Übel einer jeden Planwirtschaft, durch Kosyrews Report: Getreide in offenen Waggons, die monatelang auf einem Abstellgleis stehen blieben, bis der Inhalt verfault war. Kunstdünger wurde auf die gleiche Art transportiert. Bei Regen löste er sich auf und floss durch die Ritzen auf den Bahndamm, und dort wuchs im darauf folgenden Jahr ein
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