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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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Videokassette in der Hand, die Dokumentation einer Beuys-Ausstellung 1972 im Guggenheim-Museum in New York. 1972 war Rhett neunzehn Jahre alt. 1972 war Sonnie acht Jahre alt. 1972 starb Sonnies Großvater.
    Sie legt das Foto weg. Sie nimmt die Kassette aus der Hülle, steckt die Kassette in den Videorekorder. Sie drückt auf PLAY. Sie drückt auf FAST FORWARD. Menschen mit Schlaghosen, Koteletten, Hochfrisuren wuseln im Schnelldurchlauf durch die Ausstellung. Da! Sie drückt wieder auf PLAY. Neben Beuys mit dem unvermeidlichen Herrenhut und den wachen Jungenaugen, das ist Rhett. Da steht er, den Kopf geneigt, als schämeer sich seiner Körpergröße, und vernimmt des Meisters Worte:
    »Ich bin eigentlich ein Feldhase«, sagt Beuys mit hartem deutschem Akzent. »Nur, dass ich nicht so lange Ohren habe.« – »Daher tragen Sie auch den Hut, als Ohrenersatz«, sagt Rhett und richtet sich zu voller Körpergröße auf. »Da haben Sie vollkommen Recht«, sagt Beuys erfreut.
    Sonnie stoppt das Bild. Sie sieht zwei Männer, die Unsinn reden. Und ihre Attraktivität rührt daher, dass sie eine Vision teilen. Fasziniert mustert sie Rhetts große, straffe Gestalt, die sich noch etwas tapsig bewegt, deren Motorik noch Spannung hat, keine Spleens entwickelt hat. Sie betrachtet das bleiche, schmale Gesicht mit den flackernden hechtgrauen Augen, die noch nicht in die Höhlen gesunken sind, die noch Glanz haben, zweifelsohne Rhetts Gesicht, aber auch ganz und gar nicht seins. Sie hat nie ein Kindheits- oder Jugendfoto von ihm gesehen. Er hat ihr einen Fotoapparat geschenkt, aber sie hat ihn damit nicht fotografieren dürfen.
    Das Video ist der erste Beweis dafür, dass Rhett eine Vergangenheit hat. Es gab ihn früher schon. Er hat schon vor dreißig Jahren existiert. Das Video ist ein Echtheitszertifikat. Es ist richtig, dass sie in seinem Schreibtisch wühlt.
    Sonnie fühlt einen Schmerz in ihrer Brust, etwas zieht sich zusammen, und sie sehnt sich fast mehr nach Rhetts Jugend als nach ihrer eigenen. Der junge Mann in dem Video trägt seine Hippie-Mähne wie eine Standarte. Erst später werden Zweifel und Misserfolg ihn wieeinen Haken krümmen, sein Haar wird Hand in Hand mit seinem Charakter verfilzen und sich ausdünnen.
    Das Telefon klingelt.
    Es ist Rhett. Sonnie ist verlegen. Wann ruft er sie schon mal an? Und nun, ausgerechnet, wo sie in seinen Sachen herumwühlt wie eine eifersüchtige Ehefrau, wie eine neugierige Putzfrau, eine Einbrecherin …
    »Sonnie, ich muss irgendwo mein Adressbuch vergessen haben.«
    Das schlechte Gewissen macht Sonnie eilfertig.
    »Dein Filofax? Ich seh gleich nach.«
    »Ja, graues Leder. Siehst du’s irgendwo?«
    »Warte … nein … vielleicht auf dem Schreibtisch?«
    Im selben Moment begreift sie Rhetts Anruf, seinen Auftrag, als Chance, als Eröffnungszug. Sie muss die Gelegenheit nutzen. Wenn sie ihn jetzt fragt …
    »Nein … nur Papiere … eine Beuys-Videokassette … ein Bilderrahmen mit Foto … wer ist das auf dem Foto?«
    »Was?«
    »Das Foto in dem roten Bilderrahmen. Sind das deine Eltern?«
    »Wer?«
    »Warum hast du mir das nie …«
    Schweigen. Rauschen im Telefonhörer. Sonnie hält die Luft an.
    »Ja, verdammt, das sind meine Eltern. Ist mein Filofax dort?«
    »Nein.«
    »Okay, der Rest heute Abend.«
    Sonnie spürt einen Druck in der Magengegend. Oder eher etwas tiefer.
    Ja, verdammt.
    Sie schnüffelt und spioniert und weiß gar nicht, warum und wonach. Ist das nicht auch ihr gutes Recht? Gutes Recht. Sie denkt schon wie ihre Mutter. Wie ihre Großmutter.
    Mein gutes Recht
    Gute Butter
    Nur dein Bestes
    Ungezogen
    Verkorkst
    Für nüschte
    Sonnie drückt EJECT. Sie will die Kassette eben wieder in die Hülle stecken, als ihr ein Zettel vor die Füße fällt: schmutzig, alt, längs mehrfach eng gefaltet und geknickt. Sie faltet den Zettel auf. Er ist mit einer schrägen schwarzen Tintenschrift bedeckt. Das erste Wort fährt ihr wie ein Knüppel zwischen die Beine.
    Vater,
oder soll ich dich besser Erzeuger nennen? Oder Arschloch? Wie hättest du’s gern? Ich möchte dir danken für die nicht gezahlten Alimente der letzten 25 Jahre.
    Du warst für mich nur ein Schatten an der Wand. Nie wollte ich etwas von dir wissen, habe nie nachgeforscht, wo du bist und was du tust, habe nie unter meiner Vaterlosigkeit gelitten. Aber jetzt, im Rahmen einer Therapie, würde ich gern nach den Ursachen meines Irrsinns suchen. Und ich hoffe, sie liegen bei dir. Ich habe dich im TV gesehen und

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