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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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hatte Rhett zum ersten Mal in einem beruflichen Umfeld gesehen, mit Kollegen, zwei davon Frauen. Mit denen arbeitete er also hier seit Jahren.
    Rhett hatte Sonnie niemandem vorgestellt. Sonnie hatte zum ersten Mal »Les Demoiselles d’Avignon« gesehen. Sie war schockiert gewesen von der Größe und Plumpheit des Gemäldes. Es hatte sie massiv abgestoßen. Das machte Rhett, wenn er herkam? Er pinselte an diesen klumpigen Weibern herum? Er kratzte an ihren kantigen Ellenbogen, ihren viereckigen Brüsten, ihren obszön gespreizten Beinen?
    Rhett hatte neben ihr gestanden und geschwiegen. Es war nicht der Hauch von Freundlichkeit in seinem Gesicht gewesen. Er hatte das Kinn gesenkt gehalten, und Sonnie konnte auf einmal deutlich den alten Mannsehen, der er bald sein würde, den Greis, störrisch und verschlossen. Der Mann, mit dem sie seit zwei Jahren schlief, er war ein Fremder.
    Rhett hatte etwas von einem Telefonat gemurmelt und im Weggehen auf das schreckliche Bild gezeigt und gerufen: »Lexi, kannst du meiner Bekannten ein paar Facts geben? Ich check rasch den PLM-Termin für den Modigliani.«
    Eine etwa dreißigjährige Frau mit kurzen dunklen Haaren war auf Sonnie zugekommen, hatte sich die Hand an einem Läppchen abgewischt und sie ihr gereicht.
    Ein paar Facts geben.
    »Was ist PLM?«, hatte Sonnie gefragt. Dabei hatte sie doch keine Führung gewollt. Sie hatte doch Rhett überraschen wollen. Und sie hatte ihn überrascht, unangenehm überrascht.
    »Polarized Light Microscopy – eine Untersuchungsmethode, mit der wir Oberflächenschmutz sehen können.«
    Lexi. Lexi, kannst du mal.
    Die Frau hatte ein schmales Gesicht. Ungeschminkt. Klug. Nicht unattraktiv. Ein knabenhafter Typ. Sympathisch. In Sonnie war die Eifersucht hochgestiegen. Sie hatte sie heruntergeschluckt. Eine Kollegin. Nichts weiter. Obwohl. Rhett nannte sie Lexi. Nicht Alexandra, wie sie vermutlich hieß. Lexi.
    Sonnie befand sich in einer Welt, die Rhett noch nie erwähnt hatte und nie wieder erwähnen würde. Sie sagte nichts. Sie fragte nichts. Dinge wie: Freust du dich nicht? Willst du mir nicht die anderen Kollegen vorstellen? Ist Lexi verheiratet? Steht sie auf dich? Hast duwas mit ihr? Wie oft, dachte Sonnie damals, sagt man nichts.
    Meine Bekannte.
    In Sonnies Kränkung hatte sich Schuldbewusstsein gemischt. Was hatte sie hier verloren? Hielt Rhett dies für einen Kontrollbesuch? Sie wollte Rhett besuchen. Nun stand sie mit Lexi vor diesem Albtraum von einem Bild.
    Lexi hatte das Monstrum betrachtet wie einen Sonnenuntergang am Meer.
    »Sie sehen die dicke Ölfarbe?«, sagte sie. »Und die Kerben darin? Die entstehen durch die Pinselbewegung. Wir nennen es Impasto.«
    »Das Bild ist ziemlich … groß«, sagte Sonnie. Der einzige Kommentar, zu dem sie sich in der Lage sah.
    »Ja, es war so groß wie die ganze Wand in Picassos Apartment damals«, sagt Lexi. »Wir fragen uns alle, wie er das gemacht hat. So ein signifikantes Werk, und ganz ohne Armfreiheit.«
    Wir fragen uns alle.
    Sonnie und Lexi, zwei gut aussehende, angekleidete Frauen, hatten schweigend auf fünf nackte hässliche Frauen in Fleischrosa und Pfirsichtönen vor weiß-blau-braunen Vorhängen geblickt.
    »Es ist seit 1939 hier im MoMa«, sagte Lexi. »Es ist fast hundert Jahre alt. In den Fünfzigern und Sechzigern ist es schon mal restauriert worden. Leider nicht gut.«
    Sonnie hatte die grimmigen Felsblockgesichter gesehen, die verdrehten schweinchenrosa Körper, die viereckigen Brüste, die langen Totemmasken. In diesem Moment hatte ihr Rhett Leid getan, und sein Beruf kam ihrebenso stigmatisiert vor wie der eines Leichenwäschers. Vielleicht war er deshalb so befremdet von ihrem Auftauchen gewesen. Sie sah die Obszönität. Sie sah die Indiskretion ihres Besuchs. Sein Beruf war es, der ihm peinlich war. Nicht sie, seine Geliebte.
    Ist das überhaupt Rhetts Schrift? So fahrig? Nicht mal das weiß Sonnie mit Sicherheit. Sie findet ein gerahmtes Foto. Es zeigt einen Mann und eine Frau auf einer Bank. Sie sind beide um die sechzig. Die Frau hält ihre Arme verschränkt. Der Mann hat eine Fliege um. Das Foto ist schwarzweiß, nur die Fliege des Mannes hat einen Rotschimmer. Der Rahmen ist oval, billig, aus rot lackiertem Holz. Rhetts Eltern? Und wenn nicht, wer ist es dann? Und wenn ja, warum versteckt er sie? Warum spricht er nie über sie? Schämt er sich ihrer? Hat sie ihn nicht gestern erst nach seinen Eltern gefragt, und er hat geschwiegen?
    Sonnie hält eine

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