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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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gelitten, und niemand hatte geahnt, wie es in ihr aussah. Allein ihr sterbender Großvater hatte »Bleib, wiede bist« geflüstert.
    Bevor er das sagte, hatte sie ihn regelrecht angeschrien: »Du stirbst doch nicht?«, hatte sie gerufen, obwohl sie gar nicht wusste, wie diese Worte in ihren Kopf kamen, denn sie hatte keine Vorstellung vom Tod und nie zuvor einen Toten gesehen. Es war nur, dass der Großvater keine prallen roten Backen mehr hatte, dass seine Kiefer und seine Augen eingefallen schienen, er sah aus wie eine Nachbildung des Großvater aus dem Wachsfigurenkabinett, und all das lustige Zwinkern undGrinsen und Stirnrunzeln war aus seiner Mimik gewaschen. Sonnie riss an der Knopfleiste seines Schlafanzugs, so sehr sie konnte, damit er nicht stürbe: »Warum stirbt denn nicht die Oma?«, rief sie, heiser vor Zorn, hohl vor Tränen. Und er lächelte matt. »Deine Oma, die ist nicht totzukriegen«, sagte er. Und dann: »Bleib, wiede bist!«
    Doch als Sonnie des Großvaters Sterbezimmer verließ, stolperte sie und schlug sich die Stirn auf. Die Eltern mussten sie ins Krankenhaus bringen, der Riss wurde ohne Betäubung genäht, und es war ihre Schuld, dass der Großvater währenddessen ganz allein starb. Das Versprechen des Lebens war aufgehoben im toten Großvater. Und sie war schuld.
    Dieser Fluch, ein Einzelkind zu sein! Alles allein tragen zu müssen. Jede Erwartung hatte Sonnie enttäuscht. Dieser Fluch, kein Junge geworden so sein. Verkorkst war sie, verkorkst war immer das Wort der Mutter gewesen. Zu dick war sie, zu tollpatschig, für nüschte.
    Sonnie läuft. Sonnie schwitzt. Sie sieht die Eisentür des Krematoriums sich schließen. Drin wird die Mutter verbrannt. Im Moment, als die sich senkende Tür die Flammen verdeckt, steht der Vater auf und verlässt das Haus. Wortlos geht er weg. Sonnie sieht ihm nach, der großen gebeugten Vatergestalt, die sich entfernt.
    Ich leg dich gleich übers Knie.
    In diesem Moment ist ihr bewusst geworden, dass der Vater sie nie übers Knie gelegt hat. Kein Versprechen hat er eingehalten, auch dieses nicht. Sonnie sieht sich, wie sie dem Vater nachsieht. Sie sieht sich als kleines Mädchen, obwohl sie fast dreißig war, als die Mutterstarb. Sie ist enttäuscht, dass der Vater ihren Trost nicht braucht. Sie ist erleichtert, dass der Vater ihren Trost nicht braucht. Der Tod der Mutter hat ihr Verhältnis nicht vertieft, er hat es nicht einmal verändert. Vielleicht, weil der Schmerz zu klein war. Großer Schmerz hätte sie vielleicht zusammengebracht. Aber den gab es nicht, den Schmerz, die Erinnerungen nicht, den Austausch nicht. Es gab keine Umarmung, kein Schluchzen, keine Küsse. Da ist keine Sehnsucht, kein Heimweh, kein Vermissen. Am Anfang rang sich Sonnie noch Weihnachts- und Ostertelefonate von Übersee ab. Nun werden nur noch Geburtstagskarten ausgetauscht. Der Vater ist hier, und Sonnie ist dort. Es besteht nichts zwischen ihnen als Blutsverwandtschaft. Väter und Töchter, denkt Sonnie, auch nicht besser.
    Sonnie will nicht, dass ein Kind sie je um Liebe anbetteln muss. Sonnie will nicht, dass ein Kind je ihre Erwartungen enttäuscht. Sie will für keinen Menschen ein Schatten an der Wand sein. Elternschaft kommt ihr vor wie eines der größten Lügengebäude, eines der ältesten Verzweiflungsprojekte der Menschheit.
    Am Ende des Spielplatzes, hinter einem mit Anti-Bush-Aufklebern übersäten Hotdog-Stand, findet sie den alten Hopkins. Er ist schwarz, bullig, kahlköpfig, mit buschigen Brauen und einem Maul wie ein Baggerloch.
    »Hotdog? Hot Sausage? Hot Pretzel? Cheese Pretzel? Potato Chips? Polish Sausage?«
    »Hot Sausage«, murmelt Sonnie und hält ihm das Foto hin. »Kennen Sie den?«
    Hopkins scheint ganz in seine Wurst vertieft, die er aus einem Bottich mit heißem Wasser fischt.
    »Kennen Sie den?«, wiederholt Sonnie und hält das Foto direkt über den Bottich. Hopkins lässt die Zange sinken.
    »Yesss Ma’am«, sagt er, schiebt das Foto weg und fischt weiter. Die nasse Wurst erinnert Sonnie an das dunkle halb erigierte Geschlechtsteil auf dem Pornobild.
    »Wer ist das?«, fragt Sonnie angespannt.
    »Warum wollen Sie das wissen, Lady?«, fragt Hopkins. Er legt die Wurst in ein aufgeschnittenes Sandwich. Zärtlich. Wie ein Kind in ein Bett.
    »Ketchup oder Senf?«
    »Beides.«
    »Good old Jack«, sagt Hopkins kopfschüttelnd. »Wollen Sie etwa eine Stecknadel im Heuhaufen suchen?«
    Sonnie lacht nervös auf.
    »Klar kenn ich den«, sagt Hopkins. »Ich

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