Der Koffer
deinen Namen herausgefunden. Ruf mich an.
Andrew
Sonnie handelt wie ferngesteuert. Sie nimmt ihr Funktelefon. Sie programmiert Andrews Funktelefonnummer ein, nennt den Eintrag RHETTS SOHN, stopft den Zettel zurück ins Kuvert, das von Rhetts nervösen Spinnenfingern wie ein Fächer geknickt, immer wieder glatt gestrichen, nie weggeworfen worden war.
Do you have any kids?
No. None. No kids. Well, just one. Little one. Hardly counts.
Der Brief ist adressiert an Rhetts Verlag. Mr. Rhett Montiel, Arthouse Publishers, New York. Der Poststempel ist von 1998. Sie steckt den Brief zurück in die Kassettenhülle. Sie hält sich am Türrahmen fest und krümmt sich. Sie lebt mit einem Zwielicht zusammen, einem Heimlichtuer, Kindesverlasser, Kindesverleugner. Etwas Dickes und Dunkles lauert in ihrem Leib. Ein Wulst von Empfindungen, gestaltlos, schwer, kompakt. Sonnie will nicht schwanger sein von Rhett.
Sie geht aufs Klo. Sie sitzt da. Sie starrt in den Zwickel ihrer Unterhose. Sie starrt so lange, bis dort Blut ist.
FÜNFTES KAPITEL
Sonnie verlässt das Loft. Wild entschlossen. Mit einer fixen Idee im Kopf. Sie geht an mehreren zerzausten Künstlern vorbei, die ihr »Hi« nicht erwidern. Sie klingelt nach dem Fahrstuhl. Sie wartet auf den Fahrstuhl. Es kommt ihr gar nicht in den Kopf, Rhett zu suchen, Rhett zur Rede zu stellen. Sie denkt gar nicht an Rhett. Nach dem Koffermann will sie suchen. Er ist in ihrem Kopf. Er füllt alles aus. Er ist ihr Bote.
Der Fahrstuhl kommt. Er hält einen halben Meter zu tief. Am Hebel steht eine Chinesin mit ausdruckslosem Gesicht. Sonnie zögert, einzusteigen. Sie ist in einer Verfassung, in der der Mensch auf das Gewohnte baut. Sie macht einen unsicheren Schritt ins Leere. Die Chinesin hilft ihr in den schaukelnden Fahrstuhl, ohne die Miene zu verziehen.
»Wo ist Gong?«, fragt Sonnie.
»Klankenhaus, Klankenhaus.«
Die Chinesin zieht aus ihrer falschen Burberry-Tasche einen Zettel und hält ihn Sonnie hin. Da kein Ausweichen möglich ist, nimmt Sonnie das Stück Papier. Mr. Cheng Gong steht da, St. Vincent’s Hospital, Intensivstation.
»Ich Flau Gong. Du Flau Lett. Lett letten Gong.«
Lett letten Gong. Was soll das heißen? Sie betrachtet die Chinesin, die inzwischen an die Wand starrt, die kleine stark beringte Kralle auf dem Schaltknüppel.
Das arme Wesen. Gongs Ehefrau. Nun ist er krank, und sie muss seinen Fahrstuhl fahren, seinen Job sichern. Das tut gut. Die eigene Misere umschiffen. Durch anderer Leute Unglücksgewässer fahren.
Bevor sie der Chinesin den Zettel zurückgeben will, wirft Sonnie noch einen Blick darauf und erschrickt. Montiel. Mr. Rhett Montiel. Eingeliefert um 23 Uhr von Mr. Rhett Montiel, steht da.
Du Flau Lett. Lett letten Gong.
Wo war Rhett gestern um elf? Nicht bei ihr.
Rhett hat Gong gerettet.
Der Lift hält einen halben Meter zu hoch. Sonnie springt auf die Straße und knickt mit dem Fuß um. »Scheiße«, murmelt sie.
Die Chinesin beugt sich herunter. Sie drückt ihr eine Tupperdose in die Hand. »Fishballs«, ruft sie. »Klankenhaus. Klankenhaus.«
Reflexhaft nimmt Sonnie die Tupperdose. Sie fühlt sich in der Bringschuld. Es handelt sich um eine durch und durch irrationale Bringschuld. Sie humpelt die Canal Street westwärts, der untergehenden Sonne entgegen. Die Queen hat das Laub rot und braun geprügelt. Die New Yorker haben die Strickwaren rausgeholt. Sonnie biegt in die Thompson Street. Sie läuft nordwärts, die Tupperdose in der Hand. Der Brief ist schwer wie Blei in ihrem Kopf. Sie erreicht den Washington Square Park, in den sie bisher jeden ihrer Männer geschleppt hat, um mit ihm auf dem Brunnenrand zu sitzen und zu knutschen.
Paare gehen am Anfang immer in den Park, um auf dem Brunnenrand zu sitzen und zu knutschen. Späterwird im Auto gefummelt. Dann kommt heimlicher Sex auf der Wiese, leise, aufregend, verboten, zwischen Ratten, Eichhörnchen und patrouillierenden Polizisten. Dann gibt es keine Steigerung mehr. Der Beischlaf wird ins Privatgemach verlegt. Er wird beiläufig. Gewohnheit.
Sonnie zeigt das Passbild des Koffermanns einem Pretzelverkäufer aus Bangladesch. Der schüttelt den Kopf. Er hat den Wagen vor zwei Jahren von seinem Vater übernommen, sagt er. Den Alten auf dem Foto hat er nie gesehen. Die Väter, denkt Sonnie. Die Väter und die Söhne. Der Koffersohn. Rhetts Sohn. Ob Gong einen Sohn hat?
»Angel!« Eine Stimme, der sie vertraut, bevor sie sie erkennt. Rau, rollend, mit allen Straßenrückständen
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