Der Koffer
keine Kinder. Er kannte Beuys. Er hält nichts vom Heiraten. Er raucht nicht. Er trinkt nicht. Er geht nicht wählen. Er lässt sich nicht fotografieren.
Sonnie kann nicht einschlafen. All diese Ungereimtheiten. Wo war er letzte Nacht? Warum hat ihm die Chinesin einen Buddha geschenkt? Woher hat er das EAST-VILLAGE-Shirt? Warum hing das Tuch aus dem Koffer? Warum hatte er seinen Trenchcoat in die Reinigung gebracht? Warum hat er Kratzer auf dem Rücken?
Mitten in der Nacht erwacht Sonnie von einer Berührung an den Innenseiten ihrer Unterschenkel. Sie schreckt auf. Sie sieht zu Rhett hinüber. Er schläft, den kleinen Mund geöffnet, mit rasselndem Atem.
Da ist sie wieder, die Berührung. Rau. Heiß. Sie arbeitet sich langsam an Sonnie hoch. Es ist ein Lecken. Ein Lecken und Schmatzen an ihren inneren Knien. Mit einem Schrei versucht Sonnie, die Bettdecke zurückzuwerfen, über die Rhett eines seiner hageren Beine geworfen hat. Sie zerrt. Da muss ein Tier sein unter ihrer Decke, eine Ratte, eine Raubkatze, ein Reptil. Sonnie kriecht rückwärts zum Kopfende und macht sich klein. Starr vor Grauen ist sie. Es ist Joseph Beuys, der erst seinen Hut, dann seinen Kopf zwischen ihren Schenkeln erhebt und sagt: »Wir sind einander noch gar nicht vorgestellt worden.«
»Scheren Sie sich aus meinem Bett«, ruft Sonnie.
»Erst lecken, dann reinstecken«, reimt Rhett, der sich neben ihr aufgerichtet hat. Er raunt ihr zu: »Beuys reitet immer meine Miezen ein.«
Aber das ist ja gar nicht Rhett. Das ist ja ihr Vater! Sonnie schreit. Sie schreit. Sie wacht davon auf, dass sie schweißgebadet im Bett sitzt und schreit. Rhett, zerwühlt und verschlafen, die Hände auf den Ohren, sieht sie verständnislos an. Erst nach einigen Sekunden wird sie sich bewusst, dass sie deutsch spricht. »VERKORKST!«, hört sie sich schreien. »VERKORKST!«
Sie springt auf, rennt zur Sei-glücklich-Tasse, um kalten Hagebuttentee zu trinken, den ihre Mutter täglich kocht. Aber die Tasse ist leer. Und die Aufschrift ist anders: »Bleib durstig!«
Bleib doch endlich durstig!
Sonnie läuft zum Koffer, öffnet ihn mit wildem Herzpochen und – erstarrt. Der Koffer ist neu gefüllt. Ihre Schlenkerpuppe, ihr abgegriffenes Storm-Märchenbuch,die vom Großvater geschnitzte Flöte, schwarze Scherenschnitte, ein Weihnachtsbaum, ein Männerprofil, eine Prinzessin, rosa Mädchentagebücher mit vergoldeten Schlössern. Nur der Handspiegel ist noch der vom Koffermann. Bang, zögernd, nimmt sie ihn und hebt ihn vor ihr Gesicht.
Die Wolken sind weg.
Es ist das schmale strenge Gesicht ihrer Mutter, das sie ansieht. Aber mit ihrem Haar! Umkränzt mit ihrem blonden Haar! Sonnie, starr vor Grauen, hebt die Hand ans Gesicht. In Zeitlupe. Die große Hand erscheint auch im Handspiegel. Sie berührt die Wange der Mutter. Sie ist ihre Mutter. Verkorkst, flüstert der verhärmte Mund im Handspiegel, der Mund der Mutter, Sonnies Mund.
Der Wecker klingelt. Sonnie wacht auf.
»Was hast du geträumt?«, fragt Rhett munter. »Der erste Traum im neuen Bett geht in Erfüllung.«
Sonnie sieht in Rhetts Gesicht unter der Munterkeit etwas Verschlagenes, Abwartendes. Ist er nicht nachts aufgewacht von ihrem Albtraum? Hat sich nicht ihr Grauen auf ihn übertragen in diesem Moment? Ist vor diesem Hintergrund seine Frage nicht zynisch? Sollte er wirklich alles vergessen haben?
»Ach, und ich dachte, Marilyn Monroe ist tot«, sagt sie.
Rhett denkt an den Streit vom Vortag und schämt sich. Wie immer schämt er sich heimlich. Wie immer tut er nach außen, als sei alles in Ordnung, als sei nichts passiert.
Er braucht ein äußeres Gerüst der Ordnung, um dieinneren Abgründe einzugrenzen. Dieses klaffende Loch, und ein Bauzaun darum.
Er hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Er hatte eine Lanze für Pornobilder gebrochen und für Untreue, gegen seine Überzeugung. Es war einfach so passiert. Das Männliche hatte herausgewollt. Das Männliche, was gar nicht drin ist. Die Worte waren aus seinem Mund gekommen. Er war gekränkt gewesen, weil Sonnie sich dem gemeinsamen Essen entziehen wollte und dem gemeinsamen Fernsehabend, vom Sex ganz zu schweigen. Er hatte sich das so schön vorgestellt. Er erklärt Sonnie das Schlafnummer-Bett, sie liegen nebeneinander, wie er neben Birne Helene gelegen hatte. Dieselbe sexuelle Spannung baut sich auf. Er kann Helene haben, ohne Sonnie zu betrügen.
Er war gekränkt gewesen, weil Sonnie auf die Pornobilder so spießig reagiert hatte, eine Frau
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