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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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New Yorks belegt. Es ist Ezekiels Stimme, die Stimme des großen Bruders, den Sonnie nie hatte. Ezekiel spricht das Wort »Angel« nicht englisch aus, nicht »Ainschel«, sondern spanisch, »Anchell«.
    Es muss zehn Jahre her sein, dass Sonnie abends mit Chola durchs West Village lief. Chola trug ein dunkelgrünes Taftkleid, das in mehreren Lagen ihren Körper umschlang. Chola hakte Sonnie unter und trippelte wie eine Geisha. Plötzlich scherte sie aus.
    Sie trippelte auf einen Brocken von Mann zu, einen Penner, sie fiel in seine Richtung, als wolle sie von ihm aufgefangen werden. Und tatsächlich! Er wagte es, seine großen grauen Pranken auf ihre Rippen zu legen, gleich unter der Brust. Er hob Chola hoch. Er herzte sie. Er drückte sie. Chola herzte und drückte zurück. Sie küsste ihn auf die Wange, tauschte einige Worte mitihm, rief ihm »I love you« nach und hakte sich wieder bei Sonnie ein.
    Sonnie wunderte sich. Nicht über das »I love you«, Chola war Amerikanerin genug. »I love you« tropfte ihr nur so von den Lippen. Sonnie wunderte sich über die merkwürdige Kombination.
    »Was war denn – das?«
    »Das war Ezekiel.«
    »Wer?«
    »Mein Guru.«
    Chola lachte laut und dreckig.
    Sonnie blieb stehen.
    »Stell ihn mir vor!«
    »Such dir doch selber einen.«
    »Aber … wie soll ich denn suchen, ohne … einen kennen zu lernen?«
    Chola drehte sich um. Im durchs Taftkleid gebremsten Stechschritt, mit Sonnie im Arm, wie ein Paradesoldat. Sie liefen zurück.
    »Das ist Sonnie«, sagte Chola zu Ezekiel. »Sie kann nicht suchen, ohne zu finden.«
    Sonnie reichte Ezekiel die Hand.
    Ezekiel grinste breit.
    »Yeah! Findet, so werdet ihr suchen.«
    Sonnie führte von da an lange nachtklamme Gespräche mit Ezekiel. Sie brachte ihm Bücher, denn er las gern. Er las alles, was Buchstaben hatte. Er las alles, was er zwischen seine schmutzstarrenden Pranken kriegte. Sie war manchmal fast verliebt in den weisen Penner, aber dann wieder durch seinen Gestank abgetörnt. So war Ezekiel ihr Freund und Ratgeber geworden, über dieJahre und zwischen den Liebschaften und auch währenddessen.
    Sonnie erzählt Ezekiel vom Koffer, vom Koffermann. Atemlos. Sie zeigt ihm das Foto.
    »Hab ich nie getroffen. Frag den alten Hopkins, Angel.«
    »Wer ist der alte Hopkins?«
    Sonnie hat das Gefühl, nackt durch ein Spiegelkabinett zu laufen. Jeder kennt jeden. Jeder weiß alles. Jeder kennt sie. Nur sie kennt keinen.
    »Hopkins ist mein Guru! Der kennt jeden! Wen der nicht kennt, den gibt es nicht.«
    Sonnie humpelt durch den Park.
    Wen der nicht kennt, den gibt es nicht.
    Ob Hopkins sie kennt? Ihr Bauch tut weh. Ihr Kopf tut weh. Ihr Daumen ist ein mit Schmerz gefüllter Ballon. Rhett hat einen Sohn. Rhett ist Vater. Warum verschweigt er es? Sonnie hätte schwören können, Rhett sei kinderlos. Aber sie hätte auch schwören können, Rhett sei zum Retten nicht geboren. Hat er ihr aus Edelmut nichts von Gongs Rettung erzählt? Oder schämt er sich, und wenn ja, warum?
    Drei weitere Hotdog-Stände, einer koscher, einer halal, einer religionslos, erweisen sich als Fehladressen. Sonnie läuft über einen Kinderspielplatz voller Mütter und Kinder, mit denen sie nichts zu tun hat, zu denen sie nicht gehört.
    Sie ist ein unglückliches Kind gewesen, stets mit der bangen Frage befasst, ob sie liebenswert, ob sie in Ordnung sei. Ihre Kindheit wird in der Rückschau zu einer Zitterpartie. Sonnie erinnert sich schmerzhaft an jedesDetail ihres Bettelns um Liebe, wie sie stumm hinter ihrem Vater stand, der von ihrer Anwesenheit keine Notiz nahm, wie sie die Arme um den Hals ihrer stets unzufriedenen Mutter schlingen wollte, aber es nicht tat, aus Angst, sie zu belästigen. Und so beschränkte sich der Körperkontakt mit dem Vater auf jenen erzwungenen abendlichen Händedruck, und die Umarmungen, die sie an hohen Feiertagen mit ihrer Mutter zu tauschen wagte, gerieten nie zu deren Zufriedenheit. Sie waren entweder zu stürmisch (»Au, du tust mir weh!«) oder zu lasch (»Was soll denn DAS sein?«).
    Sonnie galt als ungeschicktes Kind. Mit Ausnahme des Großvaters versäumte kein Erwachsener, sie zu tadeln und zu korrigieren. Alles, was ihre klebrigen kleinen Hände berührten, schien zu zerbrechen. Wenn sie der Großmutter beim Treppensteigen helfen sollte, war Sonnie steif vor Angst, der welke Großmutterarm könnte ihr entgleiten. Die Greisin könnte fallen und kaputtgehen. Und so hatte Sonnie gelitten, eine unendlich lange Kindheit lang

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