Der Koffer
kenne sie alle. Dich kenne ich auch, Girl. Du sitzt jedes Jahr mit einem neuen Kerl am Brunnenrand und knutschst. Du bringst Ezekiel Bücher. Ich kenne euch alle. Wen ich nicht kenne, den gibt es nicht.«
Ich sitze gar nicht jedes Jahr mit einem neuen Kerl am Brunnenrand und knutsche, denkt Sonnie.
»Jack dachte, er is was Besseres.«
Er spritzt einen roten Streifen auf die Wurst.
Er spritzt einen gelben Streifen auf die Wurst.
»Trug weiße Handschuhe beim Wurstverkaufen.«
»Wo ist er jetzt?«
Hopkins zuckt mit den Schultern und reicht Sonnie die Wurst.
Die Wurst ist rosa. Das Brötchen ist braun. Der Senf ist orange. Der Ketchup ist rot. »Vielleicht in Paris. Da hat er immer von gesprochen. Paris. Oder tot. Wer weiß das schon. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, wohnte er noch Chrystie Ecke Delancey.«
Sie bleibt vor der schmutzig ocker Fassade eines Eckhauses stehen, direkt gegenüber von dem kleinen Park, in dem alte Samurais morgens schattenboxen. Sie kommt ihr bekannt vor. Aber ja! Hier hat sie doch den Koffer gefunden! Hier ist Rhett ums Eck gefahren, auf der Suche nach einem Parkplatz! Hier hat er also gewohnt, der Koffermann! Chrystie Ecke Delancey. Hier hat er am Fenster Trompete gespielt, morgens, bevor er seinen Hotdog-Stand Richtung Washington Square Park rollte. Sonnie hat ein Bild im Kopf, wie der Koffermann erst mit weißen Handschuhen am Fenster Trompete spielt und dann mit weißen Handschuhen seinen Hotdog-Stand durch die Gegend zieht. Ein Bild wie aus einem American-Express-Werbespot.
If you make it there you make it everywhere.
Sie drückt die Schulter gegen die Haustür, die verschlossen ist. Sie versucht, im Flur das Klingelschild zu erkennen. Nur Nummern.
Sie wartet, ob jemand herauskommt.
Sie wartet, ob jemand hineingeht.
Nach etwa zehn Minuten hält ein Umzugswagen. Zwei Männer in roten Overalls steigen aus. Sie klingeln bei Nummer 5. Ein Summer ertönt. Die Tür springt auf. Die beiden roten Männer betreten das Haus. Sonnie hält die Tupperdose in den Spalt, bevor die Tür zufallenkann, und geht ihnen nach. Sie quetscht sich mit den beiden in den Fahrstuhl, in einer Hand die kalte Wurst, in der anderen die Tupperdose. Im fünften Stock steigen sie aus. Ein hoch gewachsener dunkelhäutiger Mann betritt den Fahrstuhl und drückt FIRST FLOOR. Der Mann sieht Sonnie eine Sekunde zu lange an. Sie kann seine Augen nicht sehen. Sie liegen im Schatten. Er trägt eine Baskenmütze tief in die Stirn gezogen. Seinen Mund kann sie sehen. Groß, samten, rosa wie ein Rosenblatt. Die Möbelpacker steuern auf eine offene Wohnungstür zu.
»Wasssöh wollöne Sie?«, fragt eine Frau. Warum mischt sich Sonnie in fremde Leben ein, wenn sie ihr eigenes nicht in den Griff kriegt? Und was will sie eigentlich hier? Sie drückt Wurst und Fischbälle an die Brust und fragt: »Sind Sie … ist … diese Wohnung zu vermieten?«
Die Frau ist um die fünfzig, helle, ledrige Haut, blauschwarz gefärbtes langes Haar, brauner Lippenstift. Sie trägt eine abgewetzte Lederkorsage über einem roten Hauskleid. Sie ist barfuß, mit Überbeinen und roten Zehen. Ihre gelbgrünen Katzenaugen bewegen sich träge über Sonnies Körper.
»Sie sind doch gar nicht wegen der Wohnung hier«, sagt die Frau, und ihre Augen saugen sich an Sonnies fest. Sonnie fürchtet, dass sich ihr Herzschlag am Mantel abzeichnet. Für einige Sekunden starren sich die beiden Frauen an. »Warum rufen Sie mich nicht morgen an, ich muss mit Ihnen reden«, sagt schließlich die Frau und nestelt aus ihrer Lederkorsage eine Visitenkarte. Die Visitenkarte ist aus warmem scharfkantigem Blech.Sonnie ist froh, sich von den Katzenaugen losreißen zu können. Unten drückt sie einem Penner die kalte Wurst in die Hand. »Ich bin Vegetarier«, sagt der und wirft die Wurst weg.
Seit der Nacht mit Gong wird es wieder schlimmer. Das Schläfenstechen, die Angstzustände, der Weltschmerz. Rhett würde gern jemanden anrufen. Einen Freund. Er denkt an Ellis. Ellis, sein letzter Therapeut, der stundenlang und tagelang und nächtelang mit ihm gesprochen hatte. Der schließlich anfing zu behaupten, er, Rhett, habe sich das alles nur ausgedacht, den Unfall, den Tod der Eltern, das ganze Trauma. Ellis hatte so lange von Konfabulationen und Pseudologie geredet, von Pseudo-Erinnerungen und fantastischem Lügen durch Suggestion, bis Rhett ihn gefeuert hatte.
Nun vermisst er ihn, den einzigen Mann, der je freiwillig Zeit mit ihm verbracht hat, wenn auch nur gegen
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