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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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Bezahlung. Rhett hat nie einen Bruder gehabt, nie einen Freund gewinnen können.
    Rhett betritt einen Antiquitätenladen in SoHo. Die Verkäuferin, die sich im Schaufenster zu schaffen macht, hat ein flaches asiatisches Gesäß. Es sitzt auf einer Knochenkonstruktion, die ein Dreieck zwischen ihren Schenkeln offen lässt. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie und dreht sich um. Sie trägt einen Anstecker, auf dem der Name BUSH durchgestrichen ist. Gegen Bush zu sein, gilt in New York als stylisch.
    »Nein, danke.«
    Rhett nimmt einen Karton mit den alten Fotografien in die Hand, drei Dollar das Stück, herrenlose Familienfotosaus allen Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Er wühlt in den Fotos, kartoniert, mit Goldrand, mit Wellenrand, in Sepia, in Farbe. Er wühlt, als sei zwischen ihnen ein Freund versteckt. Männer mit Schnauzbart und Uniform, mit steifen Joppen und Kneifern, Damen mit Dutt und Mieder, Hut und Feder, mit Tränensäcken und bitterem Zug um den Mund. Rhett sucht die Farbfotos heraus, aus den Siebzigern, in verblichenen Orangetönen. Frauen mit großen Augen, Turmfrisuren, angeklebten Wimpern neben Männern mit Kragenecken, Hornbrillen und sehr seitlichen Seitenscheiteln.
    Er kann sich nicht an seine Eltern erinnern. Er hat keine Ahnung, wie sie aussahen. Er weiß nur, dass sein Vater Arzt war und die Mutter Tänzerin, dass sie an der Upper East Side wohnten, im »Silk-Stocking-District« südöstlich vom Park, dass sie sehr elegant waren, dass die Mutter lange braune Haare hatte, die nach Haselnuss dufteten.
    »Kann ich mir die Hände waschen?«, fragt Rhett. Die Verkäuferin schüttelt den Kopf. Erst beim Hinausgehen sieht Rhett im Schaufenster die Filmvorführmaschine. Er tastet nach der Filmrolle aus dem Koffer in seiner Aktentasche. Seit Tagen trägt er die Filmrolle mit sich herum, und er weiß gar nicht, warum. Er weiß auch nicht, warum er den Koffer geöffnet hatte an jenem Tag, als Sonnie in der Redaktion war, warum er die Filmrolle gesehen, herausgenommen und den Koffer hastig wieder geschlossen hatte, als sei er nicht befugt. Er geht zurück und kauft den Projektor.Es ist Nachmittag, als Sonnie Gong die Fischbälle bringt. Zimmer 1601, sagt der gelangweilte Mann an der Anmeldung. Sie fährt mit dem Fahrstuhl in den 16. Stock.
    Ärzte steigen ein.
    Schwestern steigen aus.
    Patienten steigen ein.
    Sie geht nach links, Zimmer 1601. Ein Zwei-Bett-Zimmer. Vorm ersten Bett zwei Ärzte und zwei Schwestern. Dann ein lila geblümter Vorhang. Dann ein großes Fenster mit Ausblick. Das hatte sie immer getröstet. Der Ausblick.
    Memory, agent Starling, is, what I have instead of a view.
    In Umkehrung dieses Satzes dachte Sonnie immer: Ich hab die Skyline von New York eingetauscht gegen die Erinnerung.
    Gong liegt im Bett wie ein weicher, gelber Eierkuchen. Er hängt an Schläuchen und strahlt Sonnie an. Er nimmt die Tupperdose mit den Fischbällen in die Hände. In seinen Handrücken stecken dicke Kanülen. Er schläft ein, die Tupperdose mit den Fischbällen in den Händen.
    Sonnie tritt ans Fenster. Die Sonne geht unter. Die Ärzte gehen hinaus. Jemand anders kommt hinein. Sie lauscht dem Gespräch hinterm Vorhang:
    »Du warst für mich nur ein Schatten an der Wand«, sagt eine Stimme. Die Stimme ist dunkel, kehlig, sonor.
    Du warst für mich nur ein Schatten an der Wand.
    Ein internationales Phänomen, denkt sie, Väter und Söhne.
    »Und jetzt soll ich dich bemitleiden, deine Hand halten, weil du stirbst? Du peinlicher alter Gigolo!«
    Jemand stöhnt.
    »Ich hoffe, du hast Schmerzen.«
    Sie reißt sich los und geht zur Tür hinaus. Diese Hitze! Diese Hitze in ihrem Gesicht und ihrem Körper! Sind das schon die Wechseljahre? Wird sie nun Hitzewellen haben wie Chola? Und ihr Daumen schmerzt! Er pocht und pulsiert und spannt. Und ihre Knie sind weich. Sie ruft ein Taxi.
    »Können Sie das Fenster zumachen? Mir ist kalt«, sagt sie zum Taxifahrer, einem jungen Kaugummi kauenden Schwarzen mit Piratentuch. »Können Sie die Musik ausmachen? Ich hab Kopfschmerzen.«
    » Can you drive to the Bronx? Manhattan?«
    »I work anytime, anywhere.«
    Dann fällt ihr die Visitenkarte wieder ein. Sie sucht sie in ihrer Tasche. Vorsichtig holt sie die Karte heraus.

    Ihre Zähne klappern. Sie zerrt das Telefon aus ihrer Handtasche. Sie wählt zitternd Kurzwahl 1. »Der Spiegel des Cyprianus«, schreit Sonnie ins Telefon.
    »Hä? Sonnie? Bist du das? Wovon sprichst’n da? Was is’n los? Is was

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