Der Koffer
auf dem alten Parkett.
Beide in Laken gehüllt.
Eine Frau liegt in einem Bett. Sie ist schön, dunkle Haut, dunkles Haar. Vor dem Krankenbett sitzt ein Mann am Klavier, Sonnie sieht nur seinen Umriss.
»Duke«, murmelt die Frau, »spiel mir die ›Black and Tan Fantasy‹.«
»Duke Ellington«, sagt Rhett. »Das muss vor 1930 gewesen sein.«
»So sah der aus? Sehr attraktiv«, sagt Sonnie. »Sehr, sehr attraktiv.«
Nicht ohne Neid betrachtet Rhett Ellingtons Gesicht, das Sonnie sehr, sehr attraktiv findet. Man müsste Klavier spielen können.
»Sie ist auch attraktiv«, sagt er. »Sehr, sehr attraktiv.«
Sonnie beugt sich nach vorn und beißt Rhett in die Wade. Im Halbschatten hinter dem Bett wird ein Chor sichtbar. Trompeten stimmen fauchend und miauend eine Melodie an. Der Mann am Kontrabass zupft langsam dum dum dum. Männer und Frauen wiegen sich und summen. Bei den hohen Tönen strecken die Chorsängerinnen die Arme gen Himmel. Der löcherige Film zeigt nur die Schattenbilder der erhobenen Arme und der Turbane. Close-ups: winkende Hände. Posaunenteile. Das Gesicht einer Sängerin. Negroid. Religiös verzückt.
»Herrlich kitschig«, sagt Sonnie und drückt Rhetts Arm.
Rhett freut sich. Er war erfolgreich. Nicht mit den Kohlrabi. Nicht mit dem Heiratsanstrag. Aber mit dem Kampf. Er hat sich nicht unterbuttern lassen. Und mit dem Film. Duke Ellington sieht die Frau im Bett an. Die Frau im Bett sieht Duke Ellington an. Rhett sieht die Frau im Bett an. Die Frau im Bett sieht Rhett an. Sie lächelt. Ihre Augen sind halb geschlossen. Eine Posaune bläst einen hohen, dünnen, langen Ton. Dann quakt eine zweite Posaune.
Ein Trompeter hebt sein Instrument. Er schließt die Augen. Er bläst laut und schrill und schmerzhaft dissonant.
»Der!«, ruft Rhett, macht sich los, springt auf und hält den Film an.
»Der Koffermann?«
»Könnte sein.«
Sonnie springt auf und zieht den Koffer unterm Bett vor. Sie wühlt in den Fotos. Sie betrachtet die Fotos. Sie betrachtet das Standbild. Sie betrachtet wieder die Fotos.
»Er hat keinen Bart.«
Sie wühlt weiter. Sie findet die herausgerissene Seite aus dem Buch, Trompeter, trompetende Männer, Fotos und Text.
»Das ist von 1931«, sagt Rhett.
»Sieht schon ziemlich ähnlich aus. Die hohen Jochbeine. Die hellgrauen Lippen …«, sagt Sonnie.
»… die Körperhaltung …«
»Wieso, was ist denn typisch an der Körperhaltung?«
»Siehst du das nicht? Er ist das Gegenteil von mir. Ich hab einen Rundrücken, er hat ein Hohlkreuz.«
»Nehmen wir an, es war 1929«, sagt er. »Da war Cohen … wie alt?«
»Hol das Buch. Das stand doch in dem Buch.«
Rhett holt das Buch, blättert, liest vor:
»Jack Cohen, geboren 1901 in Detroit … Dixieland Beat … Chicago zwischen 1918 und 1928 … dann erste Zusammenarbeit mit Duke Ellington.«
»Kommt hin«, sagt Sonnie.
»Kommt hin«, sagt Rhett. Er appliziert einen Wegschubskuss. Er schaltet den Projektor wieder ein.
Jack Cohen bläst. Je schriller und höher der Trompetenton, desto weiter, wie in Zeitlupe, dreht die Sterbende den Kopf nach rechts. Jemand ruft sie. Ihr Blick verliert sich in der Ferne. Die Musizierenden und Singenden wiegen sich synchron. Dann ein langsamer Trompetentriller. Der Chor setzt zum Finale ein. Ein langer pastoraler Dreiklang. Die Frau im Bett wendet sich wieder Duke Ellington zu. Ihre Lippen formen die Worte »Goodbye«.
Duke Ellingtons Gesicht in Großaufnahme. Dann er total. Er spielt Klavier. Dann wieder sein Gesicht. Er sieht die Frau im Bett unverwandt an.
Sie drückt ihren Hals durch. Er schwillt an, kommt im Bogen heraus und zieht den schweren Kopf nach. Der Kopf erhebt sich einige Zentimeter aus dem Kissen. Die Kapelle intoniert den Trauermarsch. Die Frau im Bett sinkt ins Kissen. Sie verliert alle Spannung. Ihre Augen schließen sich. Ihr Mund schließt sich.
Duke Ellingtons Gesicht verschwimmt zu einem dunklen Fleck. Der Rhythmus verlangsamt sich. DerChor singt die letzten Töne. Die Musik kommt zum Stehen. Der letzte Taktschlag wie der letzte Herzschlag.
»Wann ist das passiert?«, fragt Rhett und berührt die Narben an Sonnies Handgelenken.
»An meinem zwanzigsten Geburtstag«, sagt Sonnie. »Ich wollte, dass der Mann mich tot findet, wenn er kommt.«
»Welcher Mann?«
»Irgendein Typ.«
Meine große Liebe.
»Und dann?«
»Er kam nicht.«
Rolf, meine große Liebe.
»Wer hat dich gefunden?«
Sonnie starrt aus dem Fenster.
Sie liegt in der Wanne. Ihr Körper ist
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