Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
Vom Netzwerk:
jung. Das Wasser ist rot. Sie sieht die Decke. Die Decke hat einen Riss. Der Riss sieht aus wie ein Zorro-Z. Die Decke hat einen Wasserfleck. Der Wasserfleck sieht aus wie ein Schneemann. Das Blut läuft stoßweise aus ihr heraus. Es ist heiß, das Blut, es ist wie Lava. Das Blut vermischt sich mit dem Wasser. Das Wasser ist kühl. City singt »Am Fenster«:
    Einmal wissen, dieses bleibt für immer …
    Sonnie denkt, ich werde gleich sterben. Rolf wird kommen. Meine große Liebe. Er wird gleich kommen. Er wird mich tot finden. Ganz blass im roten Wasser. Eine schöne Leiche. Schneewittchen. City singt »Am Fenster«:
    Einmal fassen, tief im Blute fühlen …
    Rolf wird weinen. Ganz sicher wird er um sie weinen. Er wird sich Vorwürfe machen. Er wird sie vermissen. Erwird sie niemals vergessen. Er wird niemals mit einer anderen glücklich werden. Er wird es sein Leben lang bereuen.
    »Meine Mutter hat mich gefunden«, sagt Sonnie.
    Hände fahren ins Wasser hinein. Das entgeisterte Gesicht der Mutter. Der schmale Mund der Mutter bewegt sich. Die Augen der Mutter sind aufgerissen, voll roter Äderchen. Die Mutter zerrt Sonnie aus der Wanne. Sonnie kann ihren Körper nicht bewegen. Sonnie kann nicht sprechen. Das Geigensolo von »Am Fenster« läuft. Es hallt. Es quietscht. Es zwitschert. Es knarrt. Dann fiedelt der lange Ton von oben nach unten, und das Schlagzeug setzt ein. Rolf. Die Mutter. Der Großvater. Haben wollen. Tot sein wollen. Müde sein. Angst haben. Auf Zehenspitzen aus dem Leben schleichen wollen.
    … flieg ich durch die Welt, flieg ich durch die Welt, flieg ich durch die Welt …
    Die Mutter rennt umher. Die Mutter zerreißt ein Geschirrtuch und umwickelt ihre Arme mit Stoffstreifen.
    Das schöne Ärmchen.
    Die Mutter richtet Sonnie auf.
    Die Mutter nimmt Sonnie in die Arme.
    Die Mutter wiegt Sonnie.
    Die Mutter weint.
    Die Mutter sagt: »Meine Sonnie. Meine arme, arme Sonnie.«
    »Ich war sechs«, sagt Rhett. »Es war im Sommer 1960. Wir wollten in die Catskills fahren. Mit dem Lincoln. Mein Vater hatte diesen Lincoln von 1937, einen Oldtimer.Ich saß hinten und spielte mit meinen Matchbox-Autos.«
    Sonnie schmiegt sich an Rhett.
    »Ich weiß nicht mehr, warum mein Vater von der Fahrbahn abkam. Die Stimmung war heiter. Ich hatte meine Mutter gerade lachen hören. Er hatte etwas gesagt, und sie hatte gelacht. Dann fuhr er nach links. Er fuhr auf die andere Fahrbahn. In den Truck, der uns entgegenkam. Es ging alles so schnell. Er flog durch die Scheibe. Meine Mutter ohne Kopf. Ich eingeklemmt. Überall Blut. Dann kamen sie. Die Männer mit den Schweißgeräten. Die großen Männer mit den Schweißgeräten und den Schneidbrennern. Polizeiautos. Ärzte mit dem Hubschrauber. Und Reporter, Reporter. Sie haben Fotos gemacht. Blitzlicht. Meine Mutter ohne Kopf. Sie saß noch im Sitz. Angeschnallt. Ganz still.«
    Sonnie nimmt Rhett in die Arme.
    Sonnie wiegt Rhett.
    Sonnie sagt: »Mein armer Rhett. Mein armer, armer Rhett.«
    Vier Stunden später steigt Sonnie in die Subway nach Harlem.
    Zärtlichkeit, Neugier, Verlustschmerz brechen wieder aus. Sonnie hat Rhett gesehen, wirklich, unmittelbar, zum ersten Mal. Es gefällt ihr, was sie gesehen hat. Sie denkt mit Zärtlichkeit an den schlafenden Windhund. Es gefällt ihr, was sie gezeigt hat. Sie war kompliziert, emotional, hysterisch, brutal, splitternackt im erbarmungslosen Licht der Nachmittagssonne.
    Bleib, wiede bist .
    Sonnie lässt den Blick durch die Subway wandern. Sieht durch die Wand. In die Ferne.
    Die Subway ruckt an. Sonnies Blick fängt sich im Jetzt. Alles ist neu. Die Farben. Der Duft. Die Abstände zwischen den Dingen. Die Teilchen sind neu zusammengesetzt.
    Sie hat ein Kribbeln in den Fingerspitzen, in den Zehen, in den Haarwurzeln. New York umfängt sie wie ein Luftkuss.
    Ihr gegenüber sitzt eine Frau. Sie ist alt. Sie hat lange offene graue Haare. In den Haaren ist eine gelbliche Gardine mit Plastikblumen festgesteckt. Dazu ein knöchellanges Tüllkleid aus den Zwanzigern, ebenfalls gelblich.
    »Verzeihung, junge Frau«, sagt die Alte. »B-b-bin im Arsch. B-b-bitte um eine kleine Spende.«
    Sonnie sieht sich um. Die Frau spricht mit ihr.
    Junge Frau.
    »Haben Sie heute geheiratet?«, fragt Sonnie. »Sie sehen aus wie eine Braut.« Noch vor einigen Stunden hätte sie gar nicht reagiert.
    »H-h-hab mich nur h-h-hübsch gemacht.«
    Die Subway hält. Auf dem Bahnsteig läuft jemand im schwarzen Mantel entlang.
    »Wäre ich verh-h-heiratet, hätte

Weitere Kostenlose Bücher