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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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gerechnet werden. Kein schlechter Scherz der Welt wäre Sonnie jetzt willkommener als dieser.
    »Kann nicht sein.«
    »Ist aber so.«
    »Muss eine Verwechslung sein.«
    »Ausgeschlossen.«
    »Vielleicht sind die Blutproben durcheinander geraten.«
    »Höchst unwahrscheinlich.«
    »Aber nicht unmöglich?«
    »Praktisch unmöglich.«
    »Aber ich hatte meine Periode.«
    »Kommt vor.«
    Sonnie erschrickt. Hat die Praktikantin, die von Basedow schwanger ist, nicht auch ihre Periode gehabt? Und bei ihr? Es war wenig gewesen. Es war so gut wie gar nichts gewesen. Und sie hatte sich gefreut, dass nun wohl die Wechseljahre anfangen würden, pünktlich zum Vierzigsten.
    Sie hat die Bluterei immer gehasst. Dieser moderige Geruch, der unabwaschbar scheint, der ihr aus allen Poren kriecht, sie zur Aussätzigen macht. Der scharfe, besonders klebrige Schweiß. Die Krämpfe. Sie hasst die Anbahnung, wenn alles sich in ihr zusammenzieht, wenn sich alles nach unten zieht. Sie hat nie viel Aufhebens darum gemacht, um einem weiteren weiblichen Klischee entgegenzuwirken: dem Stimmungsmythos rund um den Zyklus. Aber sie hasst es. Die Weltuntergangsstimmung davor. Sie hasst den ersten Tag mit den braunschwarzen Schleimbatzen am Klopapier. Sie hasst den zweiten Tag, wenn das Blut heller und röter und flüssiger wird und sich mit dem Wasser im Klobecken vermischt. Sie hasst Tampons, die in ihr aufquellen und sich voll saugen mit Serum und Gestank, braunfleckige Binden, an ihr festklebende Watte und die Herumwirtschafterei mit all dem Verbandszeug, das »weibliche Hygieneartikel« genannt wird. Und sie hasst es, wenn Rhett, der sich sonst vor allem ekelt, ihr den Nabeldorn in die wunden Eingeweide sticht und raunt: »Das macht mir gar nichts aus.«
    Und soeben hat das verfluchte Monatsblut die einzige tröstliche Funktion verloren: die der Entwarnung.
    »Dem Resultat zufolge bist du … warte … im vierten Monat.«
    Vierter Monat, denkt Sonnie. Vierter Monat. Zu spät für eine Abtreibung.
    »Zu spät für eine Abtreibung«, sagt Clooney, Frohlocken in der Stimme.
    Oder vielleicht geht das in Kanada? Auf Haiti? In einem Hinterhof in der South Bronx? Vierter Monat. Ich werde vierzig. Wir haben November, also … Dezember, Januar, Februar, März, April. Geburt im April. Sie fühlt nichts, weder Verzweiflung noch Schmerz noch Angst noch Freude.
    Clooney hat nun einen versöhnlichen Ausdruck im Gesicht.
    »Also, nicht mehr trinken, keine Prügeleien in der Subway und, vor allem, kein Sex mehr in der Notaufnahme.«
    Sein Versuch, ihr schelmisch zu drohen, misslingt. Für den Bruchteil einer Sekunde verzerrt sich sein Gesicht wie im Schmerz. Er hebt eine Augenbraue, die mit dem weißen Streifen. Er räuspert sich.
    »Ach ja, dort sind deine Sachen.«
    Er zeigt auf einen Stuhl, auf dem Sonnies Handtasche liegt. Aus der Handtasche ragt der Knauf des silbernen Handspiegels. Über der Stuhllehne hängt Rhetts Trenchcoat.
    Clooney verlässt das Zimmer. Sonnie läuft zu dem Stuhl, nimmt die Handtasche. Sie setzt sich auf den Stuhl. Sie hebt den Handspiegel vors Gesicht.
    Auf seiner Fläche schwamm wie Duft ein Rosenwölkchen, und deutlich schimmerte ein schlummerndes Kinderantlitz daraus hervor.
    Ihr Koffer! Ihr grau karierter Koffer! Rolf Hetzer, Leipzig. Vor langer Zeit verloren. Wieder gefunden. Wieder verloren. Sie hat ihn gar nicht öffnen können. Sie wollte doch nachsehen, ob das Märchenbuch drin ist. Ein gerade wieder gefundenes Stück ihrer eigenen Lebenswahrheit, ein Stück ihrer selbst. Hatte sie ihn noch in der Subway? War er schon vorher weg?
    Sie stürzt aus dem Raum, irrt durch die Gänge der Notaufnahme. Sie liest Schilder an Ärztezimmern, Schwesternzimmern, Wartezimmern, Eingips-Zimmern, Röntgenbereich. Sie spricht eine dicke Asiatin an, die eine grüne Haube und OP-Kleidung trägt. Die schickt sie zur Information. Die Spanierin an der Information will ihren Einlieferungsschein sehen, um sie identifizieren zu können. Sonnie läuft zurück und sucht ihren Einlieferungsschein. Sie findet ihn auf Clooneys Schreibtisch und läuft zurück. Sie fühlt sich dermaßen schwanger, zweifelsohne schrecklich schwanger, mit allen Anzeichen, alle auf einmal. Die Brüste spannen, die Beine schmerzen, im Bauch ein mulmiger Druck, ihr ist schlecht. Wie hat sie das nur nicht wahrnehmen können bisher?
    »Nein, Ma’am, von einem Koffer ist hier nicht die Rede«, sagt die Spanierin.
    »Hier steht nur Fundort, Subway Linie 3 zwischen 110. Straße

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