Der Koffer
und der amerikanische Kunststudent. Rhett hatte sich nie zuvor und nie wieder danach so männlich gefühlt.
»Und übrigens: Ich war so frei, mit deiner Frau zu schlafen.« Der junge Arzt dreht sich um und zeigt auf Sonnie, die entgeistert im Türrahmen steht und das Gespräch verfolgt. Rhett sucht Sonnies Blick. Sie sieht ihn nicht an. Ihr Gesicht ist fleckig. Der Kopfverband. Das Veilchen. Sie sieht aus wie jemand anders. Sie hat mit der Frau, die er kennt, nichts zu tun. Kennt er Sonnie? Hat er sie jemals gekannt? Sie zieht jetzt ihr Funktelefon hervor, starrt auf das Display, wählt eine Nummer aus und hebt das Telefon an ihr Ohr.
»Ist das nicht ironisch?«, fragt der Arzt.
Er ist leptosom wie ich, denkt Rhett. Aber das sind viele. Er hat Kikis Augen. Verschlagen. Mandelförmig. Schlitzaugen. Aber wir sind hier in New York. Halb New York hat Schlitzaugen.
In Clooneys Kitteltasche klingelt es.
Er geht nicht ran.
»O Gott«, hört Rhett Sonnie stöhnen.
Rhett läuft. Er irrt die Gänge entlang. Er irrt gebückt die Gänge entlang, als seien es Maulwurfsgänge. Er stolpert. Seine Schnürsenkel haben sich geöffnet. Sie berühren den Boden.
Krankenhauskeime, denkt Rhett.
Ich muss die Schnürsenkel wegwerfen.
Ich muss mir die Hände waschen.
Er ist in der Kiste. Nur die Beine ragen hinaus und bewegen ihn, und die Kiste bewegt sich mit. Sie geht überallhin, wo Rhett hingeht. Rhett nimmt seinen Hut wieder ab. Er knautscht seinen Hut. Mit Bedacht hat er sich eine Frau ohne Kinderwunsch ausgewählt. Nein, denkt Rhett, nein, das stimmt so auch nicht. Ich war verliebt in Sonnie, ich habe sie begehrt, bevor ich überhaupt an diese Dinge gedacht habe.
Und nun? Was nun?
Das muss eine Verwechslung sein. Das muss ein Albtraum sein. Das ist zu viel für einen Mann.
Rhett sucht nach einem öffentlichen Telefon. Er kramt nach 25-Cent-Stücken. Er findet sieben Stück. Er wirft zwei ein und wählt Ellis’ Nummer. Ellis ist nicht da, wie immer, wenn man ihn braucht. Rhett hinterlässt eine Nachricht. Es sei dringend. Ein Notfall. Erst als er auflegt, erst als er hört, wie das Telefon seine beiden 25-Cent-Stücke schluckt, fällt ihm ein, dass er neulich schon den Notfall strapaziert hat, in einer weit weniger dramatischen Situation. Er hat sein Notfallpulver bereits verschossen. Und Ellis ist nicht da. Oder geht nicht ran. Er braucht jetzt jemanden. Er muss jetzt reden. Rhett tastet nach seinem Filofax. Er schlägt »B« auf.Kein Bud Brown. Er hat Buds Nummer nicht eingetragen.
Rhett greift nach dem Telefonbuch. Es ist schmutzig, abgegriffen, Seiten fehlen. Rhett würde sich gern die Hände waschen. Bronx. Manhattan. Queens … Foster Homes … Santa Clara … Santa Maria Magdalena … Santa Lucia. Rhett starrt auf den Eintrag. Die Buchstaben fliegen wie Schrot in sein Gesicht, jeder einzeln.
W-A-I-S-E-N-H-A-U-S S-A-N-T-A L-U-C-I-A – Termine nur nach telefonischer Anmeldung. Rhett nimmt zwei weitere 25-Cent-Stücke. Er wählt die Nummer. Es klingelt.
»Waisenhaus Santa Lucia. Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«
»Ist Schwester Cäcilia zu sprechen?«
»Wer ist denn da?«
»Rhett Montiel. Ich bin ein … ähm … alter Bekannter von Schwester Cäcilia.«
»Ein Zögling? Das ist ja nett. Da wird sich die Mutter Oberin aber freuen.«
»Ist sie da?«
»Sie schläft. Aber, wissen Sie was, kommen Sie doch zu ihrer Geburtstagsfeier übermorgen Abend.«
»Gern – wie … alt wird sie denn?«
»Ein runder Geburtstag. Der neunzigste. Den Weg kennen Sie?«
»Ja … Verbindlichsten Dank.«
Rhett legt auf. Übermorgen. Was für ein Tag ist übermorgen? Was für ein Tag ist heute? Rhett starrt in seinen Filofax, unfähig, auszumachen, welcher Tag heute ist, welches Datum. Er weiß das Jahr, 2005, und er weiß den Monat, November.
Sonnies Geburtstag, denkt er, genau, dann ist heute der 20. November. Im selben Moment kriegt er, ganz ohne jede Ankündigung, ein Hagelkorn auf den Kopf. Und noch eins. Und noch eins. Unter Beschuss, denkt er und reibt sich die Stelle, wo das Korn auf seinen Schädel traf.
Er notiert für den 22. November in seinen Filofax: Geburtstagsfeier Schwester Cäcilia (90). Er blättert weiter im Telefonbuch, auf das nun auch Hagelkörner prasseln. Winde kommen auf und sausen. Der Himmel nimmt eine bedrohliche Farbe an. Rhett kann seine Gedanken nicht benennen. Er hat keine. Er ist innen hohl. Hinter seinen Augen ist nichts. Hinter seinem Brustkorb ist nichts.
Er IST die Kiste. Eine Kiste
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