Der Koffer
überrascht von der Rohheit der Bemerkung.
»Ich mag keine Kinder«, sagt Chola.
»Warst du mal schwanger?«
»Ach. Lange Geschichte.«
Beide schweigen wieder. Sonnie wartet auf die lange Geschichte. Chola sieht nicht so aus, als wollte sie sie erzählen. Sonnie schubst sie an.
»Ich höre!«
»Dreimal«, sagt Chola. Sie haucht sich in die hohle Hand und wirft den unsichtbaren Inhalt über ihre Schulter. »Weg! Dreimal wegmachen lassen. Kein Problem gewesen. Nie ein Problem gewesen. Bis …«
Ich hab keine Kinder, und ich will auch keine.
»Hey, du Bitch«, brüllt ein betrunkener Ire. »Ich hau dir aufs Maul. Ich fackel dich ab, dich und den verfickten Park.«
»Aber doch nicht etwa von Rhett?«, fragt Sonnie angstvoll.
»Verpiss dich, oder ich ruf die Cops«, ruft Chola gelangweilt.
Sie schüttelt den Kopf.
»Nee, nich vom Windhund. Du nu wieder!«
Der Ire zeigt Chola den Finger.
Chola zeigt dem Iren den Finger.
Die Frau hat vor nichts Angst, denkt Sonnie. Sie friert. Ihr Fell ist nie dick genug gewesen für New York. Auf einmal kommt es ihr so vor, als sei es nicht Rhett, den sie verlassen müsste, als sei es New York, das sie verlassen müsste. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, denkt Sonnie. Ich sollte davonlaufen. Aber sie bleibt sitzen.
»Bis ich bei dieser Wahrsagerin war«, sagt Chola, »zehn Jahre her.«
»Warum?«
»Ach, so, aus Jux. Sie sagte, mit mir is alles okay, langes Leben, Gesundheit, Glück in der Liebe, aber siefragte, ob ich was über die drei Kinder wissen will, die hinter mir stehen. Ich hab mich umgedreht. Keine Kinder da. Hab gefragt: Was für Kinder? Sagt sie, na, die drei Jungs. Ich wusste nicht, was die redet. Da waren keine Jungs. Fragt sie: Haben Sie Kinder? Sag ich: Nee. Haben Sie Kinder verloren?, fragt sie. Sind Ihnen Kinder gestorben? Nie Kinder gehabt, hab ich gesagt, immer abgetrieben. Sagt sie: Haben Sie 1980 abgetrieben, 1985 und 1987?«
»Und?«
»Hat gestimmt.«
Chola hält sich den geschwollenen Mund zu. Es ist nicht klar, ob sie sich das Lachen, das Weinen, das Niesen oder das Schreien verkneift.
»Was?«
»Sie hat gesagt, abgetriebene Kinder wachsen auch auf, genau wie lebende. Und sie laufen immer hinter der Mutter her, immer hinterher, als Geister.«
Es ist das Weinen, das Chola sich verkneift.
Chola, die Ungläubige.
Chola, raubeinig wie ein Feldwebel.
Chola, die vor nichts Respekt hat.
Chola, die vor nichts Angst hat.
Chola, die in selbst gewählter Freiheit lebt, die quietschvergnügt in den Tag hineinlebt. Dieselbe Chola ist es, die nun von ihren Gespenstern spricht und sich das Weinen verkneift.
»Unsinn«, sagt Sonnie.
»Weiß nich, ob das Unsinn is.«
»Du glaubst daran?«
»Die Jungs sind jetzt alle erwachsen.«
»Welche Jungs, verdammt?«
»Meine. Hübsche Jungs. Ich hab ihnen Namen gegeben, Robert, Ray und Ruben.«
Wolf soll es heißen, wenn’s ein Knabe ist; Wolf und Kuno!
»Du machst mir Angst.«
Sonnie denkt an die nuttig vorgestülpte Unterlippe. Andrew. Andy. Clooney. Rhetts Sohn. Die ungewollten Kinder, denkt sie. Die ungeborenen Kinder. Die ungeschriebenen Bücher. Die gewesenen Liebhaber. Dieser verfickte Park. Dieses Scheiß New York.
»Und meine Fohlen werden immer jünger. Is dir das nicht aufgefalln? Ich bemuttere sie. Ich bin ihre Mutter. Sie sind meine Jungs. Sie sind meine Ersatzjungs.«
»Das ist doch okay. Du kannst mit ihnen machen, was du willst. Du bist die Chefin.«
»Wenn ich so auf mein Leben seh’«, sagt Chola, »dann hab ich im ersten Drittel Männer verliebt angeglotzt, die mich nicht wollten …«
»Und im zweiten Drittel?«
»… haben mich Männer verliebt angeglotzt, die ich nicht wollte.«
»Und im dritten Drittel?«
»Kamen die Fohlen.« Chola sucht nach Worten. »Kennste das? So lieben, dass man sterben will?«
Sonnie schließt die Augen. Der Alkohol glättet sie, innen und außen. Klaus. Ihr erster Kuss. Rolf, sein Vater, ihr erster Liebhaber. KC, der Hausbesetzer, Freddy, der Philosophiestudent …
»Kennste das?«
»Ich überlege noch.«
… Armin, der Philosophiedozent, Hugo, der bolivianische Journalist … Wer war danach? Sie fallen mir nicht mal mehr ein, denkt Sonnie. Dabei war ich doch immer so verliebt.
»Wenn du so lange überlegst, kennste das nicht.«
Die dritte Dose Bier für Sonnie.
Die dritte Dose Bier für Chola.
Sonnie fühlt sich herausgefordert.
»Einmal. Der Mann war viel älter, verheiratet. Mein Erster. Er war der Vater eines Jungen aus meiner Klasse.
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