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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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Totenmaske.
    »Mister Cohen?«
    Sonnie greift nach der langgliedrigen, schlaffen Hand auf der Decke.
    Sie ist kalt. Ist er tot?
    Nein. Er stöhnt. Er lebt noch. Sonnies Blick fällt auf den Nachttisch. Dort liegt ein Paar weiße Handschuhe. Tränen schießen ihr in die Augen. Die weißen Handschuhe auf dem Nachttisch bringen sie zum Weinen. Erhat mit ihnen Trompete gespielt. Er hat Hotdogs in Brötchen gelegt wie Kinder in Betten.
    Der Koffermann schlägt die Augen auf. Seine Lippen sind weiß. Er macht Anstalten, etwas zu sagen, aber die Lippen kleben zusammen. Sonnie dreht sich um. Chola und Ezekiel haben sich auf den gleißend hellen Flur zurückgezogen und tuscheln.
    »Mister Cohen«, sagt Sonnie, einem Instinkt folgend. »Ich soll Sie von Ihrer Familie grüßen.«
    »Sind sie hier?«, fragt er tonlos.
    »Sie sind auf dem Weg. Valerie ist gerade von einem Gastspiel zurückgekommen. Sie ist Opernsängerin.«
    »Und little Jacques?«
    »Musiker. Saxofonist. Jazz, wie der Papa. Lässt schön grüßen. Kommt gleich nach seiner Europa-Tournee.«
    Der Koffermann flattert mit den Lidern. »Europa-Tournee«, haucht er, und sein Mund verzerrt sich zu einem gruseligen Lächeln, »Paris – New York – Berlin … Duke Ellington … Good old times .«
    Dann sieht er Sonnie mit einem Anflug von Klarheit und Strenge an. Seine alten Augen schwimmen über seinen Tränensäcken. »Sie belügen mich doch nicht?«
    Er zieht die strichdünnen Augenbrauen hoch. Sonnie und er sehen sich schweigend an.
    »Nein, natürlich nicht«, sagt Sonnie schließlich.
    »Haben Sie Kinder?«, fragt der Koffermann.
    Sonnie schüttelt stumm den Kopf. Ihre Augen brennen. Ihr Hals schnürt sich zu.
    »Für mich ist es zu spät«, murmelt der Koffermann, als hätte er ihre Gedanken gehört.
    »Herr Cohen, ich habe Ihren Koffer gefunden, den roten, den ›Lady Baltimore‹ …«
    Cohen greift nach Sonnies Hand, umschließt sie mit seinen klammen, ledrigen, braunen Fingern. Er drückt Sonnies Hand. Er öffnet mit größter Anstrengung den Mund. Er sagt: »Nicht aufmachen!«
    Dann zuckt er ins Kissen. Sein Mund öffnet sich erschreckend weit. Die Augen verdrehen sich nach innen, dann nach oben. Seine Hände lassen Sonnies Hand fahren. Sie ballen sich. Sie fallen auf die Bettdecke.
    Duke, spiel mir die Black and Tan Fantasy.
    »Ist er tot?«, fragt Chola, die herangetreten ist.
    »Weiß nicht«, sagt Sonnie und beugt sich über den alten Mann. Er liegt ruhig da, mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund. »Ich kann keinen Atem hören«, sagt Sonnie.
    »Drück mal den roten Knopf da«, sagt Chola.
    Sonnie drückt den roten Knopf. Sie sieht den Koffermann an. Er scheint geschrumpft zu sein.
    Für mich ist es zu spät.
    Die Schwester kommt.
    »Darf ich mal fragen, was Sie morgens um vier hier machen?«, fragt sie.
    »Ist er tot?«, fragt Sonnie.
    Die Schwester tritt heran und berührt den Hals des Koffermanns.
    »Ja.«
    Der Koffermann ist tot.
    Der Großvater ist tot.
    »Sind Sie Angehörige?« Der Blick der Schwester heftet sich skeptisch auf Ezekiel.
    »Nein«, sagt Sonnie mit dem irritierenden Gefühl zu lügen.
    »Hat er Angehörige?«
    »Wissen wir nicht«, sagt Chola und zieht an Sonnies Schulter. »Komm.«
    »Ja«, sagt Sonnie, »er hat Angehörige.«
    »Kennen Sie die Namen, Adressen? Vielleicht können Sie uns alles sagen, was Sie wissen, damit wir die Angehörigen ausfindig machen können. Er hat keine Krankenversicherung. Es geht um Arztkosten, Bestattungskosten et cetera.«
    »Geht ihr schon mal vor«, sagt Sonnie zu Chola und Ezekiel. »Ich klär das hier.«
    Rhett erwacht wie aus dem Koma. Es riecht nach Farbe, Schweiß und kalter Asche. Das Tageslicht kommt von links statt von rechts. Er ist nicht zu Hause, so viel ist klar. Und in seinem Arm, das ist nicht Sonnie. Er richtet sich auf und spürt einen stechenden Schmerz im Kopf. Er hat getrunken. Getrunken und rumgehurt. Er hat einen Sohn, und er wird vielleicht noch einen haben. Oder eine Tochter. Seine Nasenlöcher sind verklebt. Sein Mund ist trocken. Seine Achseln stinken. Die Frau neben ihm sperrt den vulgären Mund auf und schnarcht. Sie ist fremd, das Tageslicht schmeichelt ihr nicht, und nur fünf Meter entfernt, auf einer anderen Matratze, liegt Bud mit einer Frau, die der an Rhetts Seite frappierend ähnlich sieht. Die beiden Frauen und Bud schnarchen.
    So weit ist es schon gekommen, murmelt Rhett und versucht, sich von der Umklammerung seiner Kneipenbekanntschaftzu befreien.

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