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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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So fühlt sich das an. Erbärmlich. Er hat getrunken, zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren. Er hat betrogen, zum ersten Mal seit … mindestens genauso lange schon. Er muss nach Hause. Aber wo ist das? Und wer ist das? Und warum ist er nicht dort aufgewacht? Warum ist er nicht bei Sonnie? Sonnie ist sein Mensch. Sie hat den Schlüssel zu seiner Gefühlswelt. Sie sieht ihn mit den Augen der Liebe. Sie trägt sein Kind, Scheiße. Sie teilt sein Leben. Oder ist das alles schon nicht mehr wahr?
    Muss er das nicht mit ihr tragen? Hat er ihr das nicht angetan?
    Er fängt an, die herumliegenden Textilien zu sortieren und zusammenzulegen. In Zeitlupe. Es ist wie ein Zwang. Dann steht er vor einem mit Farbe bekleckerten Spiegel, einer an die Wand gelehnten Scheibe. Er ist zusammengeschrumpft wie eine leere Hülle. Er sieht sich, er sieht die späten Mädchen im Hintergrund schlafen, er sieht Bud, er sieht wieder sich. Seine Augen sind tief umschattet. Sein Mund wirkt eingefallen. Seine Haare sind schütter und statisch aufgeladen. Er muss sich waschen, gründlich waschen, von Kopf bis Fuß.
    Sonnie läuft nach Hause. Im Briefkasten steckt eine Postkarte. Auf der Postkarte ist ein Blumenstrauß abgebildet. Nelken. Sonnie erkennt die eckige Gelehrtenschrift des Vaters.
    »Meine liebe Sonja«, beginnt der Text. Sonnie kann den Text auswendig. Auf den Geburtstagskarten des Vaters steht immer dasselbe:
    »Meine liebe Sonja. Zu deinem Geburtstag wünsche ich dir Gesundheit, Besonnenheit und Erfolg im Beruf sowie im Privatleben. Dein Vati.« Doch diesmal steht da noch ein PS: »Oma liegt im Sterben.«
    Die Rollläden des Fahrstuhls sind hochgezogen. Gong steht im Fahrstuhl, als wäre er nie weg gewesen. Sonnie unterdrückt den Impuls, die Arme auszubreiten und Gong zu umarmen.
    Sie hält die Geburtstagskarte in der feuchten Hand.
    Sie knickt die Geburtstagskarte.
    Oma liegt im Sterben.
    Frau Gong ist sicher glücklich gewesen, als Herr Gong wieder da war. Und die Gong-Kinder, und die Gong-Eltern. Familie, denkt Sonnie, wie macht man das? Wie liebt man das? Wie spricht man damit?
    Du wirst bald eine Reise machen. Eine Reise in die Vergangenheit.
    Sie wird Rhett fragen. Sie wird sich mit Rhett aussprechen. Wenn Rhett da ist, wird sie bleiben. Wenn er weg ist, wird sie fahren. Zurückfahren, zurück in die Vergangenheit.
    Sonnie geht vorbei an Malern, die ihr »Hi« nicht erwidern. Sie empfindet einen Triumph der Heimkehr, der sich im nicht erwiderten »Hi« manifestiert. Sie öffnet die Tür. Abgeschlossen.
    »Hallo?«
    Niemand da. Das Schlafnummer-Bett ist unberührt. Sie steht vor dem Spiegel und zerrt sich den Verband vom Kopf. Sie steht vor dem Spiegel, betastet ihr Veilchen. Es ist abgeschwollen, dunkler nun ums Auge.
    Es klingelt. Sie rennt zur Tür. Und während sie rennt, weiß sie, es ist nicht Rhett. Rhett ist weggelaufen, Rhett hasst sie, weil sie schwanger ist, er hasst sie, weil sie mit Clooney, seinem Sohn, geschlafen hat, er hasst sie und er hasst die Welt. Er würde den Schlüssel nie verlieren oder verlegen oder einfach nicht benutzen. Das kann nicht Rhett sein. Wobei, wer weiß, wer weiß, vielleicht ist es doch Rhett, vielleicht gibt es eine Erklärung, die ihr gerade nicht einfällt, vielleicht ist das Klingeln seiner Verwirrung geschuldet, vielleicht ist es doch er? Und während sie sich auf die Tür zubewegt, hofft sie, dass er es ist. Wenn er es ist, muss sie nicht zurück nach Deutschland, muss nicht in die grauen indifferenten Augen des Vaters sehen, muss nicht am Bett der bösen Großmutter sitzen, muss nicht all das wieder riechen, fühlen, sehen, was sie verließ, was sie fluchtartig verließ, was sie nicht ohne Grund fluchtartig verließ.
    Es ist der Rosenblattmann. An den hat sie nun gar nicht gedacht. Wie eine Schaufensterpuppe von Macy’s steht er da, wie ein Pizzabote, fremd und störrisch. Er hält ihren Koffer in der Hand. Und, da sie schweigt, sagt er: »Ich soll hier was abgeben.« So fremd sein Blick. Ist er es wirklich? Oder sehen sie alle gleich aus?
    »Okay.« Sie nimmt den Koffer, mit pumpender Vorfreude im Bauch, sagt: »Was schulde ich Ihnen?«
    Einen Fick. Ich fick halt gern mal ’ne weiße Bitch.
    »Nichts«, sagt der Rosenblattmann, Fremdheit im Blick. Sonnie bezweifelt, dass er es ist.
    »Ich bin schon bezahlt worden«, sagt er.
    »Gut, dann«, sagt sie. Der Mann interessiert sie nicht mehr.
    Sie nimmt ihren Koffer aus seiner warmen, weichen, dunklen Hand. Er dreht sich in derselben

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