Der Koffer
Sekunde um, rennt fast, nimmt die Treppe. Sie schließt die Tür, setzt sich aufs alte Parkett, legt den Koffer neben sich, legt die Wange auf den Koffer. Die verschmutzten, harten Fasern drücken sich in ihre Wange. Der Koffer war da, war weg, war wieder da, war wieder weg. Nun ist er wieder da. Nun soll er bleiben. Er riecht nach Vergangenheit. Sie fürchtet sich, ihn zu öffnen. Ihre Hände betasten die Schnallen, ihr Kopf hebt sich langsam. Sonnie öffnet den Koffer.
Ihre Schlenkerpuppe, ihr abgegriffenes Storm-Märchenbuch, die vom Großvater geschnitzte Flöte, schwarze Scherenschnitte, ein Weihnachtsbaum, ein Männerprofil, eine Prinzessin, rosa Mädchentagebücher mit vergoldeten Schlössern.
Sonnie sitzt im Schneidersitz auf dem alten Parkett. Sie hebt die Flöte an die Lippen. Ein heiseres Fiepen. Ihre Finger suchen die Löcher. Ihre Hände sind viel zu groß für die Flöte.
Sie legt die Flöte weg und geht zum Anrufbeantworter. Eine Nachricht blinkt. Sie drückt auf PLAY. Sie kennt die Nachricht schon.
»Sonnie? Hallo? … Ich weiß gar nich, ob ich de richtige Nummor hab … Hier ist Gabi. Aus Leipzig. Du, wir machen ein Glassentreffen Ende Novembor. Wir holen die Zwanzig-Jahre-Abi-Feier nach. Haste Lust? Haste Zeit? Ich würd dich gern mal wiedersehn. Meine Nummer ist 0341-5551212.«
Sonnie liegt die Flöte weg. Ende November. Wann ist das? Es schneit. Ist das schon vorbei?
Oma liegt im Sterben.
Sie greift nach dem Kuli neben dem Anrufbeantworter. Sie spielt die Nachricht noch einmal ab. Sie kritzelt Gabis Nummer auf ihren Innenarm.
Was wohl aus Klaus geworden ist? Er war ihr Banknachbar. Er war rothaarig, mit weißer, durchsichtiger Haut und Sommersprossen. Er hatte rote Wimpern. Er las Bücher von Sartre und André Gide. Er küsste sie. Der erste Zungenkuss. Sie gingen drei Wochen miteinander, bis sie sich in Klaus’ Vater verliebte. Rolf. Ihre große Liebe. Ihr erster Mann.
Sonnie sucht den Kühlschrank nach Wein ab. Nichts. Sie sucht den Vorratsschrank ab. Nichts. Sie sucht wieder im Kühlschrank. Im Obstfach ist noch eine angebrochene Flasche chinesischer Kochwein. Sie trinkt aus der Flasche. Es schmeckt ekelhaft. Der Alkohol marschiert sofort an seinen Platz.
Kommst sowieso bald wieder, hatte die Mutter gesagt, als Sonnie nach Amerika ging. Sie war zehn Jahre später wiedergekommen, zur Beerdigung. Und nun wird sie zur Beerdigung der Großmutter fahren. Oder wird sie sie noch lebend sehen? Und ist ihr daran gelegen?
Oma liegt im Sterben.
Wie lange wird die Karte unterwegs gewesen sein? Eine Woche? Zwei, drei Wochen? Sicher ist sie längst tot.
Für nüschte.
Sonnie trinkt die Flasche aus. Sie wählt Gabis Nummer.
»Munz.«
»Splettstösser.«
»Sonnie?«
»Gabi!«
»Gut, dass du zurückrufst. Wollte dich heute auch noch mal anrufen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
»Danke.«
Gabi denkt jedes Jahr an Sonnies Geburtstag. Sonnie hat nie an Gabis Geburtstag gedacht, sie ist auch jetzt, als sie sich fragt, wann der eigentlich ist, nicht sicher, ob sie es jemals wusste.
»Ich mach grad die Liste für das Klassentreffen. Kommst du?«
»Wann ist denn das?«
»Übermorgen. Ganz nobel. Ab abends um acht, in »Auerbachs Keller«. Kommste nun?«
»Ja.«
»Prima. Das mit Oma hast du schon gehört?«
»Ist sie tot?«
»Schlaganfall. Halb gelähmt. Dein Vater wollte sie unbedingt zu Hause pflegen. Aber der kann auch nicht mehr so. Ist ja niemand da …«
»Bis übermorgen.«
Sonnie legt auf. Da steht er, der Vorwurf, mit gespreizten Beinen. Deutschland, die kalte Mutter. Verwandtschaft, die beleidigte Leberwurst. Sonnie gießt sich die letzten Tropfen in den Mund. Warum tut sie sich die Scheiße an? Hat sie nicht schon genug Ärger? Sie schüttet gierig, aber die Flasche ist leer. Sie nimmt die Scherbe, die auf dem alten Parkett liegt, und legt sie in den karierten Koffer. Sie nimmt die Geburtstagskarte des Vaters und legt sie in den karierten Koffer.
Sie sucht nach der Kreditkarte, der Partnerkarte, die ihr Rhett einmal in die Hand gedrückt hat und die sie mit gespielter Entrüstung von sich wies. Sie findet sie im Chaos ihrer verstreuten Sachen. Sie ruft das Reisebüro an, in dem sie viele von Rhetts Dienstreisen gebucht hat. Sie bucht einen Last-Minute-Flug, nachmittags, über Frankfurt nach Leipzig.
Sonnie sagt Rhetts Kreditkartennummer durch.
Sie steht am Fenster.
Die Skyline sieht schmutzig aus.
Es schneit.
ZWÖLFTES KAPITEL
Rhett steht an der
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