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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Buschheuer
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Bushaltestelle, den Kragen hochgeschlagen, Schnee in den Wimpern. Er fühlt sich zum Kotzen. Diese schreckliche Einsamkeit, die aus heiterem Himmel hereinbricht, die aus dem Asphalt aufsteigt und aus den offenen Mündern der Irren kommt, die auf den Straßen Selbstgespräche führen. In diesem Moment hasst er New York mit einer Leidenschaft, die ihm neu und unheimlich ist.
    Der Bus kommt. »Fahren Sie nach Manhattan?« Der dicke Fahrer nickt. Rhett hält ihm zwei Dollarscheine hin. »Ich nehm keine Dollarscheine«, sagt der Fahrer. »Ich nehm nur Quarter.«
    »Aber ich hab das Geld«, sagt Rhett, dem die Knie zittern. »Zwei Dollar, hier.«
    Der Dicke sieht ihn Kaugummi kauend an. Er macht keine Anstalten, loszufahren.
    »Geld ist Geld«, sagt Rhett.
    »Read my lips«, sagt der Dicke, »keine Scheine.«
    Die Fahrgäste beginnen zu murren. »Raus oder rein«, ruft einer.
    Rhett steigt rückwärts aus. Kein Wunder, denkt er, dass in dieser Scheißstadt jeden Tag Morde passieren. Der Bus schnauft und fährt los. Rhett übergibt sich. Er wischt sich das Gesicht mit seinem Ärmel ab. Er fährt suchend in die Taschen seines Mantels nach einem Taschentuch.Kein Taschentuch. Links Münzen. Quarter, aber nur zwei. Er hätte acht gebraucht. Rechts ein Heft. Rhett zieht das Heft hervor. Ein billig gebundenes blassgelbes Heft. Das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker. Rhett liest:
    1. Schritt: Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
    Was heißt hier, nicht mehr meistern? Ich konnte mein Leben noch nie meistern, denkt Rhett, und sein eigenes Selbstmitleid lässt ihn wohlig schaudern.
    2. Schritt: Wir kamen zu dem Glauben, dass nur eine Macht größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.
    Was heißt hier wiedergeben?, denkt Rhett. Ich war noch nie geistig gesund. Wer ist schon geistig gesund? Er lässt die wenigen Personen, die er kennt, an sich vorüberziehen. Keine davon kommt ihm geistig gesund vor.
    3. Schritt: Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.
    Scheiße, denkt Rhett. Was soll das sein, Gott, wie wir ihn verstanden? Wer ist Gott, wie wir ihn verstanden? Und wer ist eigentlich wir? Und warum Präteritum?
    4. Schritt: Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.
    Das ist endlich mal eine vernünftige Idee, denkt Rhett und markiert den vierten Schritt mit einer Linie seines viel zu langen, schartigen Zeigefingernagels. Furchtlos. Das gefällt ihm. Das ist, was er sein möchte, bekotzt, verkatert, verlogen, aber immerhin furchtlos.
    5. Schritt: Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.
    Die leichteste Übung, murmelt Rhett. Die allerleichteste Übung.
    6. Schritt: Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.
    Von wem auch immer, sagt Rhett schon lauter. Wer immer will, darf ab sofort meine zahlreichen Charakterfehler beseitigen.
    7. Schritt: Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.
    Demut, denkt Rhett, ist eine überschätzte Tugend.
    8. Schritt: Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
    Ach, das ist interessant, sagt Rhett. Er sieht eine untersetzte spanische Frau mit Kinderwagen an der Bushaltestelle stehen. »Sie? Mam? Haben Sie mal ’nen Stift?«
    Die Frau schüttelt den Kopf. »Sie? Mister?« Rhett ist sich dessen bewusst, dass er keinen guten Eindruck macht, frühmorgens, bekotzt und fahl, wenn er Passanten hinterherrennt. »Haben Sie mal einen Stift?« Der junge Mann, mit Anzug und Schlips, der verloren wirkt hier im ärmlichen Teil Brooklyns, dreht sich gar nicht erst um. An einem Zeitungskiosk kauft Rhett einen Stift und lässt sich einige Dollar in Quarter umwechseln.
    »Bud Brown«, schreibt Rhett hinten auf das Heft. »Joy, Sonnie, Kiki, mein Sohn …« Er weiß nicht mal den Namen von dem jungen Mann, von dem Arzt, der sich als sein Sohn ausgibt, er weiß nicht mal, ob es sichtatsächlich um seinen Sohn handelt … »Ellis, Chola, Ezekiel, Schwester Cäcilia …«
    Da kommt der Bus. Er lässt nacheinander acht Quarter in die Zählbox gleiten. Pling pling pling. Kaum sitzt er, rafft er das Heft wieder vor und ergänzt mit vom Fahren verdruckster Schrift: »Mein ungeborenes Kind.« Er starrt auf die Buchstaben,

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