Der Kofferträger (German Edition)
für die weiteren Schritte ihres gemeinsamen Weges, das war es, was sie bei ihren Treffen vorbereiteten.
Ein gerahmtes Foto in der Größe dreißig mal vierzig Zentimeter stand bei ihren jährlichen Zusammenkünften auf dem Tisch. Es zeigte drei dreiundzwanzigjährige Studenten. Alle gleich groß. Selbst vom Aussehen her meinte man, sie könnten Drillinge sein. Mittelblondes Haar, gut ausgeprägte Stirn und ein festes Kinn wiesen auf zielgerichtete Unternehmungen hin. Beschrieb man einen, hatte man die anderen beschrieben. Das galt für alles, was man beschreiben konnte. Dennoch waren die drei keine Drillinge. Die Elternhäuser waren und blieben völlig voneinander getrennt. Auch konnte keinem Vater ein sexuelles Abenteuer mit der Mutter des anderen nachgesagt werden. Dieser statistisch unmögliche Zufall war es, der sie davon überzeugte, dass sie von eben diesem Schicksal auserkoren waren, das ganz Besondere in der Welt zu schaffen. Sie hatten diese Herausforderung sehr ernst genommen. Das Foto galt als erster gewichtiger Akt in ihrem gemeinsamen Leben.
Auf diesem Bild hielten sie nicht das Dokument der Reife in ihren Händen. Mit der rechten Hand auf den Herzen drückten die geöffneten Münder selbst auf dem scheinbar stummen Bild einen Schwur aus.
Nachdem der Gentest, den ihr Kommilitone in seinem eigenen Labor durchgeführt hatte, ihnen die gleichen Voraussetzungen und Chancen versprochen hatte, richteten sie den Entwurf ihres Lebenswerkes darauf ein. Ihr Freund hatte Rechner gekoppelt und das Geheimnis der menschlichen Erbanlagen selbst aufgedröselt. Dabei war es ihm gelungen, diese Einmaligkeit des Dreigestirns herauszufinden. Sie stellten sich umgehend der Verpflichtung, zu der sie das Schicksal aufgefordert hatte. In der Politik, im Rechtswesen und in der Wirtschaft beschritt jeder für sich den steilen Weg einer erfolgreichen Karriere. Aber auch das brauchten sich die drei nicht jedes Mal beim Jahrestreffen zu bestätigen. Obwohl sie sich andernorts häufig genug begegneten, verpassten sie niemals ihr jährliches Studientreffen. Hier und nur hier galt es jedes Mal, ihren Schwur zu erneuern.
Angefangen zu dem Zeitpunkt, an dem das Foto entstand, kreierten sie ein politisches Bild, dessen Anfänge sie allerdings noch während ihrer Gymnasialzeit entworfen hatten. Sie waren dazu auserkoren, die Menschen zu führen. Dorthin, wo es für die Menschen gut war. Was das war, entschieden die drei.
Bei ihren Zusammenkünften im Jahresrhythmus legten sie wert auf Schlichtheit und Einfachheit. Der Raum, in dem sie sich trafen, hatte einer Vorschrift zu folgen, die ebenfalls achtundvierzig Jahre alt war. Vier Wände und nur ein Fenster. Kein Schmuck an den Wänden oder sonst irgendwo. Ein Tisch aus massivem Eichenholz, davor drei Stühle. Das gemeinsame Foto als Dokument des ‚Gelöbnisses‘ mit dem Schwur als Bildunterschrift, als einziges Utensil.
In dunklen Anzügen mit silbergrauer Krawatte nahmen sie drei Seiten des Tisches stehend ein. Auf der vierten noch leeren Tischseite ermahnte sie eben dieses Foto. Schon bei ihrer ersten Zusammenkunft nach dem Abschluss ihrer Studienzeit hatten sie ein Gelübde abgelegt, das ihre prometheische Gleichheit als göttliche Basis hinnahm. Dieses in einen Silberrahmen gefasste Gelübde stand neben dem Bild mit dem Schwur. Eine Bruderschaft, bei der es um die Geschicke der Welt ging. Sie stand für ein ganzes Volk. Für Führungswillen und absolute Macht. Dementsprechend ernst zeigten sich ihre fetten Gesichter.
H. Braunegger, Dr. Görres und Dr. Dietrich hatten sich diesmal darauf verständigt, sich am Starnberger See zu treffen, in der gut bewachten und geschützten Wochenendvilla des Dr. Dietrich.
‚Einer für alle, alle für einen. Koste es, was es wolle ‘
Die linke Hand legten sie auf das Foto, die rechte ruhte auf ihren Herzen.
Stehend und mit bedeutenden Gesichtern bekräftigten sie ihren Schwur, mit dem sie sich vor langer Zeit zum ersten Mal aneinander gebunden hatten. Dann stießen sie mit ihren Weingläsern an und hielten die funkelnden Becher eine Weile aneinander.
Gemeinsam bestätigten sie ihr zehn Punkte Gelübde aus dem Silberrahmen. Sie lasen es gemeinsam laut vor.
1. Die Gleichheit ist Einheit
2. Die Einheit ist Stärke
3. Die Stärke ist Macht
4. Die Macht ist Leben
5.
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