Der Kofferträger (German Edition)
Markt zu nehmen.“
„Wie, was meinst du damit, Jürgen? Vom Markt nehmen, das geht nicht.“
Noch nie hatte er seinen Onkel in solch spontaner Bedrängnis gesehen. Der Gedanke schien ihn zu entsetzen. Hatte er hier bei seinem Kanzler einen wunden Punkt getroffen?
„Ja, du hast recht. Vom Markt nehmen, das geht wohl nicht.“
„Zu viele Arbeitsplätze sind davon abhängig.“
Sie folgten bald den Damen, die sich mit einer Tasse Kaffee in der Hand erzählend und diskutierend in den am südlichen Ende gelegenen Wintergarten begeben hatten. Durch die sich weit entfaltende Glasfront über den Schlossgarten gehörte ihnen der Blick direkt auf Schloss Charlottenburg.
„Friedrich der Große wusste schon, warum er sich genau hier niedergelassen hatte“, rezitierte H.B., „an dieser Stelle atmest du den Hauch der Geschichte, das Fluidum der Macht umgibt dich.“
„Und doch möchte ich nicht mit dem Schloss tauschen“, fiel Marga ein. „Schon, wenn ich an die sanitären Einrichtungen denke, an Bad und WC. Wenn ich unsere komfortable Fußbodenheizung spüre, mich vor den Kamin setze, der so viel Wärme ausstrahlt, verzichte ich auf den Pomp der Hohenzollern.“
„Eines verbindet unsere beiden Familien weiterhin“, lächelte Anita, „ihr schaut auf Schloss Charlottenburg. Wir sehen aus unserem Schlafzimmer direkt auf das Lust- und Sommerschloss der Pfaueninsel, ebenfalls ein Hohenzollern Relikt.“
Die Tante stieß ihren Gatten an. Er legte seinen Arm um Schütz.
„Ich will euch beiden mal etwas Schönes zeigen, kommt mal mit.“
Marga lächelte verständnisvoll. Auch sie stand auf und folgte ihrem Herrn. Sie wandten sich in dem Glas überdachten Wintergarten auf die Spreeseite nach Osten. Dort waren ein paar seltene Stücke der verschiedensten Art ausgestellt. Erinnerungen, Andenken und Geschenke von politischen Reisen. Ein echtsilberner Samowar auf einem kleinen Holztisch, ein Geschenk des russischen Präsidenten. Eine Friedenspfeife, bunt verziert, des letzten Häuptlings der Schwarzfußindianer hing an der Wand, ein Geschenk des amerikanischen Präsidenten. Ein Edelstein in der Größe einer Männerfaust lag in einem Glaskasten auf der Fensterbank, ein Geschenk des südafrikanischen Präsidenten. Auf dem Boden breitete sich ein Tigerfell aus, ein Geschenk des indischen Präsidenten. Die Präsidentengeschenke setzten sich beinahe unbegrenzt fort. Für Jürgen und Anita keine Besonderheiten mehr, da sie die Wertstücke seit geraumer Zeit kannten. Dennoch lobte der Neffe all diese Stücke zum wiederholten Male. Welch ein Glück, dass die wertvollen Unikate nicht von außen gesehen werden konnten, dachte er. Die mit Silberdampf besprühten Glasscheiben verwehrten den Blick von außen nach innen.
„Jetzt kommt mein Prachtexemplar.“
H.B. trat zu einer kleinen Glasvitrine, öffnete sie, griff hinein und holte einen klobig wirkenden Gegenstand heraus.
„So, was ist das ?“, rief er überlaut, wobei er das Ding über den Kopf hielt.
Sie konnten es nicht erraten. Marga freute sich kindisch.
„Es ist, es ist“, rief H.B., „es ist dein Geburtstagsgeschenk.“
Jürgen schien enttäuscht. Was sollte er mit solch einem klobigen Gerät. Doch dann waren sein Erstaunen und seine Begeisterung grenzenlos.
„Ein uralter Kompass, mein Gott, dass es so etwas noch gibt. Onkel, Tante, wo habt ihr den her?“
„Wo hat man so etwas her? Für die liebsten Freunde und Verwandten besorgt man so etwas“, lachte der große Mann laut. „Nun zeige ich dir noch mehr. Sieh mal hier auf diese Urkunde, was darauf geschrieben steht. In lateinischer Sprache. Du kannst es ja. Na lies laut vor. Übersetze es gleich.“
„Originalkompass der Santa Maria, die Kolumbus auf seiner Entdeckungsfahrt nach Westindien geführt hat.“
Das verschlug dem Neffen die Sprache. Er starrte die beiden an, wusste nichts mehr zu sagen. Tränen glitzerten in seinen Augen.
“Onkel, wo, wie.., ich fasse es nicht.“
„Du siehst, wie wir uns um euch sorgen und eure Wünsche zu unseren machen.“ Tante Marga, umarmte ihren Neffen.
„Schließlich wusste ich, dass ein solcher Kompass ein großer, bisher unerfüllter Wunsch von dir war. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“, diesen belehrenden Zusatz konnte sich H.B. nicht verkneifen.
Wie ein Junge spielte Jürgen mit dem Kompass, er untersuchte ihn mit den Fingerkuppen, um eventuell ein eingraviertes Bermudasegel ausfindig zu machen. Das aber war nicht da. Schütz demonstrierte
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