Der Kofferträger (German Edition)
für ‚vertrauliche Gespräche‘ zusammengefunden. Außer dem nicht stimmberechtigten Jürgen Schütz und dem Kanzler waren es sechs Politiker und Beamte. Fünf hatten keine Widerstände. Nur der Präsident des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte, Roland Schmidt, pflegte seine Einwände. Dem Amt, das dem Gesundheitsministerium unterstellt war, oblag die Genehmigung für neue Medikamente. Die PCD hatte nach der Regierungsübernahme eine Gesetzesnovelle durchgebracht, nach der die Wahl des Amtspräsidenten neu geregelt wurde. Der Gesundheitsminister schlug die Person vor, der Kanzler bestätigte und das Parlament wählte.
„Lassen wir unsere Argumente ein wenig ruhen“, nahm H.B. die nachdenklichen Worte seines Parteipartners zur Kenntnis, „dann kann jeder noch einmal das Für und Wider abwägen und sich bei unserer nächsten Zusammenkunft entscheiden. Die Sitzung ist geschlossen.“
Warum der schnelle Abbruch? Fünf positive Stimmen plus die des Kanzlers hätten Roland Schmidt in zehn Minuten überzeugt. H.B. spielte Demokratie. Ein wachsender Entwicklungsprozess war scheinbar in Gang gesetzt. Ohne die Nebenwirkungen, die Probleme und Schäden zu besprechen, die bei einer offenen Diskussion auf den Tisch gekommen wären, ließ sich für H.B. ein pseudodemokratischer Entscheidungsprozess darstellen. Schütz ahnte, dass bald ein Büschel Gras verpflanzt würde. Er wusste auch schon wohin. Warum aber diese Eile für Nicoclean?
Trotz all dieser offenen Fragen hatte er sich in den letzten Minuten mit der Wetterkarte auf dem Bildschirm seines Handys beschäftigt. Anstatt des stabil liegenden sommerlichen Hochs jagte ein Tief nach dem anderen graue Wolkenmassen vor sich her, und die Störungsfronten wechselten sich wie beim Pferderennen ab. Der ständige Regen verhinderte seinen Tiefgang in die Unterwelt.
H.B. behielt seinen Neffen nach dem Gespräch noch für ein kurzes Wort bei sich.
„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen“, versuchte der Herr Europas seinen Generalbevollmächtigten zu besänftigen. Du bist nicht stimmberechtigt.“
Schütz schaute ihn fragend an. Er äußerte sich nicht.
„Es geht nicht nur um Nicoclean. Es geht um unser Leben. Es geht um BSE und die bedrohlichen Kampagnen der Opposition. Es geht um angeblich Schmittger Erkrankte. Wir müssen eine eigene entlastende Kampagne führen. Das bedeutet, wir brauchen die Gelder, die wir aus der wohl gesonnenen Industrie bekommen. Du wirst in der nächsten Zeit einiges zu transferieren bekommen.“
Die Luft blieb Schütz weg. Sein Onkel taktierte nicht mehr um den heißen Brei herum. Er lud ihn als Mitwisser und Mitverschwörer zum Handeln ein. Ja, er setzte ihm selbstverständliche Fakten vor.
Wissend um die Art der Kanzler Entscheidungen und zu welchem Wohle fragte Schütz nach dem Inhalt der Kampagne.
„Das viele Gerede mit der Ängste machenden Hysterie beim Fleischverzehr wird uns Wählerstimmen kosten. Wir müssen dem entgegen arbeiten. Unsere Agentur ist dabei, eine beruhigende Kampagne auszuarbeiten. Sie wird teuer werden. Wir brauchen das Geld. Unsere Freunde werden uns nicht im Stich lassen. Die meisten sind daran interessiert, die Diskussion unter den Tisch zu fegen.“
„Eine Kampagne zur Beruhigung der Bevölkerung? Nicht eine Kampagne, die endlich das Problem löst, nicht eine Kampagne, um die Prionen endlich zu vernichten?“
„Das würde alles viel zu lange dauern. Bis dahin haben wir die Wahl verloren. Wir müssen vorher die Stimmen zurückgewinnen.“
„Damit aber würde doch die Bevölkerung belogen ...“
Im selben Moment ging ihm die Banalität seiner Frage auf. Nach seinen Erfahrungen würde sich Braunegger darum nur vor den Fernsehschirmen und Mikrophonen scheren.
„Warum belogen?“ H.B. hatte eine kleine Wanderung im Büro aufgenommen. Er marschierte vom Fenster zur Wand und wieder zurück. Am Fenster blieb er ein ums andere Mal stehen, schaute über den Kanzlergarten hinweg auf das jenseitige Ufer der Spree. Dann zeigte er wieder mit dem rechten Zeigefinger in den grauen Nachmittagshimmel, kehrte um und nahm seine Wanderung wieder auf. Bereits drei, vier Mal hatte er so getan. Schütz beobachtete seinen Herrn an der Tür stehend. Er hatte fassungslos vernommen, wie der Kanzler mit seinem Volk umgehen wollte. Irgendwo hatte er ein Zitat aus den Anfängen des Jahrhunderts gelesen „Mittelmäßigkeit mit persönlichem Anspruch in der Politik gepaart, fordert von den Regierten ein
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