Der Kofferträger (German Edition)
Machtmissbrauches, denn nur an so etwas dachte er, bedrohte ihn. War es sein Recht, Geheimnisse aufzudecken? Sollte er nicht das, was längst zur Ruhe gelegt war, ruhen lassen? Wenn er aber doch Geheimnisse aus der Jetztzeit entdecken würde, wäre es dann nicht seine Pflicht, sie ans Tageslicht zu fördern? Alle diese Gedanken schossen ihm im Bruchteil von Sekunden durch den Kopf.
Als er den Zylinder des Türschlosses beleuchtete, sah er seine Finger zittern. Der letzte Schlüssel aus dem Bund ließ sich butterweich einschieben. Nichts. Auch hier hing eine große Kellerleuchte. Schütz versuchte erst gar nicht, sie anzuschalten. Der Gedanke an Martins drohenden Schaltkasten saß ihm im Genick. Die nächste Tür brauchte keinen Schlüssel. Er drückte die Klinke herunter und öffnete das Stahlhindernis. Das Licht seiner Taschenlampe zitterte durch ein unerforschtes Reich, das ihm für eine Sekunde die Sinne raubte. Nicht mehr die ungepflegten Katakomben einer schweigenden Vergangenheit versetzten ihn in Angst und Schrecken. Modernste Räume mit in sich klimatisierten Aktenschränken, offene Regale und eine unendliche Weite, die jede seiner Vorstellungen weit übertraf, boten sich seiner Forscherphantasie an. Eine unendliche Zahl an zugreifbaren und verborgenen Akten, Dokumenten und elektronischen Speichermedien. Schränke, in offenbar hundert Metern langen Regalen und selbst auf geräumigen Tischen versammelte sich die Geschichte des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Es war die verborgene, nicht veröffentlichte Geschichte, wie er bald entdecken musste.
Jahreszahlen an den Regalböden und auf den Rückseiten von Ordnern verkündete eine tiefe Sorgfalt mit präziser Ablagesystematik. Mit dem gebündelten Licht seiner Lampe erhellte er punktuell das vergessene Geschichtsbewusstsein. Neben den erleuchtenden Strahlen blieben andere Regale und Gänge des Archivs in schemenhafter Undeutlichkeit und fielen mit dem verschwindenden Lichtschein stets wieder dem Vergessenwerden anheim. Auf den Aktenrücken erschienen Jahreszahlen von 1815 angefangen.
Schütz riss sich aus der Geschichte heraus.
Es gab das so hoch gelobte Bundesarchiv, dazu das Archiv des Kanzleramtes. In welchem Zusammenhang stand dieses hier zu den offiziellen? Die Frage blieb unbeantwortet, doch ahnte er die unbeugsame Macht des Verborgenen. Das Verbergen all dieses Wissens produzierte Macht.
Was er aber hier wollte, blieb ihm selbst noch ein Geheimnis. Letztlich war er der Neugierde gefolgt und begab sich mit ihr in ein gefährliches Abenteuer.
Schütz fühlte sich tiefer in ein kriminelles Dasein abrutschen. Durfte er an dieser Stelle weitermachen? Und er tat es.
Er fand noch eine Akte, die ihm nun wirklich sein goldenes Ziel verheißen könnte. Die Akte ‚Intercom AG‘. Zwanzig Meter unter der Erde ruhte das Wissen, das er so dringend benötigte. Seine angespannten Erwartungen verloren mit der Anzahl der Blätter, die er durchstöberte, an Saft und Kraft. Selbst hier fand er nicht die geringste Detailauskunft.
Er suchte nach weiteren Dokumenten und stieß auf einen normalen Karteikasten mit alphabetisch sortierten Kärtchen. Der Buchstabe ‚I‘ führte ihn wieder zur ‚Intercom AG‘. Eine Nummer bezeichnete den Schrank, in dem das Dokument zu finden war. Endlich atmete er tief durch.
Es war wie verhext, d ieser eine von ihm so sehr benötigte Schrank ausgerechnet gewährte ihm keinen Zugang. Verwirrt blickte er sich um. Ein Sicherheitsschloss hielt Wache vor der ‚Intercom AG‘.Nicht die geringste Möglichkeit konnte er entdecken, diesen Schrank zu öffnen. Das Geheimnis des regierenden Kanzlers blieb verborgen. Vielleicht das Geheimnis eines Teils seines eigenen Lebens. Alle Dokumente, die er gefunden hatte, waren bedeutsam. Doch sie alle würde er gegen einen Blick in die Intercom Akte eintauschen. Die gleiche Enttäuschung erlebte er mit den Unterlagen der ‚MESF AG‘ und der Firma ‚ Happy Hour ‘. Schütz setzte sich auf einen der Stühle an einem Tisch und löschte seine Lampe.
G renzenloses Alleinsein stürzte sich auf ihn. Die Verzweiflung rückte in sein Leben, die alle seine Taten für sinnlos erklärte. Er hörte für einige Augenblicke auf, zu atmen. Die Stille, in die er sich begeben hatte, erdrückte ihn. Graue und grauweiße Schleier tanzten um ihn herum, ein Summen und Quäken und Kreischen hüllten ihn in die Zentrale teuflischer Macht. Für eine Weile genoss er noch
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