Der Kofferträger (German Edition)
ohnehin niedrige Decke pressen würden. Mehr Fragen als Antworten quälten ihn.
O hne lange zu zögern, stieg er in die eiskalten Fluten. Aus den mächtigen Erdschichten über ihm hatten sich die vielen Jahre hindurch aus den tropfenden Rinnsalen Kalkfäden gelöst und zwangen ihn, diesen Stalaktiten auszuweichen. Bis knapp unter die Knie umspülten die eiskalten Gewässer seine Beine. Die Möglichkeit einer Begegnung mit den Teufeln der Vergangenheit ließ ihn frösteln. Am Ende des etwa fünfzig Meter langen Ganges saugte eine Reihe von Löchern den Strom gurgelnd auf. Einer geheimnisvollen Unterwelt geweihte Stufen führten aus dem Strom hinaus und leiteten den Weg nach oben. Schütz hielt eine Weile inne, setzte sich auf einen feuchten Tritt, zog seine Schuhe aus und rieb seine eiskalten Füße. Zitternd glitt er wieder in die nassen Strümpfe und das Schuhwerk und setzte seinen Weg fort. Die Hose klebte an seinen zu Eisklumpen gefrorenen Beinen. Vielleicht zwanzig Stufen ging es höher hinauf, dann folgte wieder ein Gang. Bis hierher schien das Wasser noch niemals gedrungen zu sein. Die Wände ähnelten zwar mit abgebröckeltem Putz den Ersten bei seinem Abstieg, doch gab es kein fließendes oder stehendes Wasser. Mit Farbe geschmierte Parolen an den Wänden dröhnten im Rhythmus von Militärmusik, die er zu hören glaubte. Durch seinen Schädel dröhnte: ‚... es braust unser Panzer, wie Sturmwind dahin ...‘, eine andere proklamierte ‚... der Krieg geht weiter ...’ Daneben entdeckte er eine Jahreszahl, ‚März 1945.’
Überbleibsel längst vergangener Epochen? Angefangene und nicht zu Ende geführte U-Bahn Schächte. Kanäle für die Berliner Rohrpost, die lange Zeit sehr erfolgreich im Gebrauch gewesen war. Fabrikationshallen der Brauereien und chemische Fabriken. Teststrecken und schließlich zusätzlich gebaute Bunker, die einem kleinen Teil der Berliner Bevölkerung einigermaßen sicheren Unterschlupf bieten sollten. In der Phase des Aufbaus nach dem Krieg konnte schnell irgendwo ein unterirdischer Raum vergessen worden sein.
Wenn er sich schon einmal durch diese grässlichen Katakomben bewegte, wollte er auch die letzte Ecke ausforschen. Bei seinen Gedanken war es ihm entgangen, wieweit er sich bereits von seinem Wasserkanal entfernt hatte. Die Gänge verzweigten sich immer wieder. Nicht nur die Frage, welches der richtige Weg wäre, bewegte ihn, er müsste ihn auch wieder zurückfinden. An einer Kreuzung fand er gleich vier verschiedene Abzweigungen. Mit einem Schlüssel ritzte er Zeichen in den aufgeweichten Putz, um nicht in einhundert Jahren als Skelett wieder gefunden zu werden. In seinen weiteren Entscheidungen für einen der Gänge richtete er sich nach der Qualität des Mauerwerkes. Den Besten wählte er aus, und bald stellte er fest, wie gut erhalten Putz und Boden waren, und wie sauber gleichzeitig die Decke in einem nahezu neuen Anstrich glänzte. Zum ersten Mal entdeckte er eine Kellerlampe über sich. Ein offenbar vor nicht allzu langer Zeit erneuertes Kabel führte in die Ferne, von ihm weg. Bald schon hatte er auch die Schalter zu den Lampen gefunden, vermied es aber, sie zu betätigen. Möglich war es, dass sie mit einer Meldung irgendwohin den Eindringling verrieten, wenn das Licht eingeschaltet wurde.
Wände und Stufen waren trocken, gut durchlüftet. Bevor er erneut eine Entscheidung über den richtigen Pfad bei einer Kreuzung zu treffen hatte, stieß er an dieser Stelle auf eine metallene Tür, mit frischer Farbe versehen. Rundherum war sie mit breiten Gummibändern abgedichtet. Benutzerspuren an Klinke und Zylinder des Schlosses ließen sein Herz aufgeregt pochen. Zumindest gab es hier etwas, von dem er bisher nichts gewusst hatte. Noch niemals wurde selbst im vertrauten Kreis darüber gesprochen. War es deswegen schon geheimnisvoll?
Ein paar Sekunden fragte sich Schütz: „Was mache ich eigentlich hier? Das ist nicht meine Aufgabe. Verborgene leer stehende Räume, die mir nichts verraten. Wenn ich entdeckt werde , kostet es mich als Spion meinen Kopf.“
Was verbarg sich hinter dieser Tür? Augenblicklich erkannte er auch die Logik des besseren Weges. Seine Vorstellung des durch eiskaltes Wasser watenden Bundeskanzlers korrigierte sich von selbst. Natürlich gab es einen zweiten, sehr gepflegten Zugang. Vielleicht sogar eine direkte Verbindung von dem neuen Kanzleramt aus.
Welche Geheimnisse würden ihn hinter dieser Tür erwarten? Der unheimliche Hauch politischen
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