Der Kojote wartet
erfuhr Leaphorn zwei interessante Tatsachen.
Erstens: Tagert hätte schon vor zwei Wochen seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen sollen, aber - falls die Auskunft der Jacobs zuverlässig war - kein Mensch schien zu wissen, wo er steckte.
Zweitens: Jim Chee, der Pinto festgenommen hatte und offiziell krank geschrieben war, agierte wieder einmal, wie er's nur allzu oft tat - meilenweit abseits jeglicher Vorschriften. Er war in Tagerts Büro aufgekreuzt und hatte die Assistentin ausgefragt. Wie konnte Chee auf Tagert gekommen sein?
Während der Lieutenant darüber nachdachte, merkte er, daß er damit gegen eine seiner eigenen Regeln verstieß. Er ließ zu, daß sein Verstand sich abwechselnd mit zwei Problemkreisen beschäftigte - Tagert und Chee - und so bei keinem weiterkam. Chee konnte warten. Als erstes mußte er versuchen, Tagerts unentschuldigte Abwesenheit von den Hörsälen in dieses Puzzlespiel einzupassen.
Leaphorn drehte sich mit seinem Sessel nach der riesigen Wandkarte hinter seinem Schreibtisch um. Dabei handelte es sich um eine vergrößerte Ausgabe der Indian-Country-Karte, die der Automobilclub von Südkalifornien herausgab. Im Originalmaßstab wurde sie wegen ihrer Genauigkeit und Detailtreue von allen Polizeidienststellen im Four Corners Territory verwendet. Leaphorn hatte sie sich fotografisch vergrößern lassen, und Emma hatte die neue Karte auf eine Korkplatte gezogen.
Seit Jahren markierte Leaphorn diese Landkarte mit farbigen Stecknadeln - als Gedächtnisstütze, wie er behauptete. In Wirklichkeit hatte er ein ausgezeichnetes Gedächtnis, das keine Stütze brauchte. Er benutzte die Karte für seine endlose Suche nach Rastern, Zusammenhängen oder Verhaltensmustern... nach irgend etwas, was Ordnung und Überblick in das Chaos aus Gewalt und Verbrechen bringen konnte, hohzho, wie die Navajos sagten.
Aus seinem Schreibtisch nahm Leaphorn eine kleine Schachtel Markiernadeln, wie sie Architekten benutzen. Er suchte drei mit gelben Köpfen heraus: Gelb war Leaphorns Code für Vorgänge, die nicht direkt dringend waren, aber doch irgendwie durch Ungereimtheiten auffielen. Eine Nadel steckte er zwischen Bekahatso Wash und Yon Dot Mountain in die Karte - ungefähr dort, wo Ashie Pintos Hogan stand. Die nächste Stecknadel plazierte er zwischen Jadito Wash und der Handelsniederlassung von Birdsprings. Dort hatte Delbert Nez gelebt. Die dritte markierte den Punkt an der Navajo Route 33 zwischen Shiprock und Beautiful Mountain, wo Nez von Pinto erschossen worden war. Dann lehnte er sich zurück und begutachtete sein Werk.
Das von den gelben Stecknadeln gebildete Dreieck war riesig. Nach Leaphorns Auffassung unterstrich es zwei Tatsachen. Nez hatte mindestens hundertfünfzig Meilen südlich von Pinto in einem Teil des Reservats gelebt, in dem Kontakte zu den Hopis und der geschäftigen Welt der biligaana häufig, wenn nicht sogar unvermeidlich waren. Pinto hatte in der ganz und gar anderen Welt der reinen, unverfälschten Navajokultur gelebt. Sie waren durch alles voneinander getrennt gewesen. Entfernung. Alter. Kulturkreis. Und trotzdem waren sie an der Spitze des Dreiecks gewaltsam aufeinandergestoßen - über zweihundert Meilen von ihren jeweiligen Wohnorten entfernt. Nez war dort dienstlich unterwegs gewesen. Aber was hatte Pinto dorthin geführt?
Das war der zweite Punkt. Die gelben Stecknadeln zeigten deutlich, daß das kein bloßer Zufall gewesen sein konnte. Es war unmöglich, von Nadel A bei Pintos Hogan zu Nadel C neben der Navajo Route 33 zu kommen, ohne ein halbes Dutzend Mal die Straße zu wechseln. Pinto konnte dort nicht auf dem Weg zu einem anderen Ziel zufällig vorbeigekommen sein. Nein, er mußte diesen Ort absichtlich aufgesucht haben. Und der Lieutenant zog daraus den Schluß, daß der Zweck von Pintos Aufenthalt mit dem Grund zusammenhängen mußte, aus dem der Alte Delbert Nez erschossen hatte.
Aber drei Stecknadeln reichten nicht aus, ihm wirklich etwas zu verraten. Deshalb studierte Leaphorn in für ihn typischer Manier die Landkarte, um zu sehen, ob die Nadeln weitere Aufschlüsse liefern konnten. Ihm fiel nur eine Tatsache auf, die ihn interessierte. Obwohl Leaphorn den überlieferten Zauberkult der Navajos verabscheute, gehörte er mit zu seinem Job. Der Glaube an Hexen - und die Angst vor ihnen -war der Auslöser für viele Straftaten, für zahlreiche Tragödien, die ihn als Polizeibeamten beschäftigten.
Die Nadel C, die den Tatort bezeichnete, steckte ganz in der Nähe
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