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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Noch vor ein paar Monaten wären ihnen im selben Augenblick, da sie die Schwelle überschritten, giftig weiße Schwaden von Zigarettenrauch entgegengeschlagen, aber Jakob Blumberg, der neue Bürgermeister von Wien, hatte kürzlich ein striktes Rauchverbot erlassen.
    Die Kärntner Bar war winzig; sie bot gerade einmal Platz für zwei mit schwarzem Kunstleder bezogene Bänke und ein paar Barhocker, es herrschte Schummerlicht. Sie waren die einzigen Gäste, aber hinter der Bar standen fünf junge Kellner bereit, um sie zu bedienen. Malek bestellte Whisky aus dem schottischen Hochland, kaum dass er Platz genommen hatte; und weil das Nötigen kein Ende hatte, musste Alexej nun einen Wodka aus Karelien vor sich auf den weißen Sechsecktisch stellen lassen. Alexej war noch nie hier drinnen gewesen, er hob den Blick und sah sich um. Edle Materialien: Onyx, Mahagoni, Spiegel, Spiegel und noch mehr Spiegel. Der Architekt der Bar, ein pädophiler Mädchenfreund aus Mähren
Hinweis
, hatte einst die etwas exaltierte Ansicht vertreten, Ornament sei ein Verbrechen, also gab es hier keinen Kitsch, keinen Schnickschnack, nur exakt abgezirkelte Linien. (Gottlob hatte diese Doktrin in der Architektur des 20. Jahrhunderts keine bleibenden Spuren hinterlassen.) »Na sdorowje!«, sagte Malek und hob sein Glas. »Prost«, erwiderte Alexej. Sie tranken. Und dann hielt André Malek ihm französisch näselnd ein philosophisches Privatissimum; er formulierte beinahe druckreif.
    »Sie haben, junger Mann«, sagte Malek, »mit ihrer Kritik am Habsburgerreich vollkommen recht – Sie haben sogar mehr recht, als Sie selber wissen. Oder ahnen. Denn die provinzielle Überheblichkeit dieses Reiches ist nur ein Symptom, es handelt sich um eine sehr ernste Malaise. Ich rede hier nicht davon, dass die Donaumonarchie ein – wenn auch, zugestanden, sehr komfortabler – Völkerkerker ist, dass sie die in ihr gefangenen Völkerschaften um ihre Identität betrügt. Ich rede auch nicht von der schreienden sozialen Ungerechtigkeit, von den raffenden Bankiers, den armen ausgeplünderten proletaires. Non. Ich rede davon, dass Österreich-Ungarn zutiefst unwahr ist. Sind Sie mit dem Wirklichkeitsbegriff des großen Hegel vertraut, mon ami? Nein? Dann lassen Sie mich Ihnen erklären, dass für Hegel irgendeinem Zeug, das nur so vor sich hin existiert, noch lange nicht die adelnde Qualität des Wirklichen zukommt.« Malek hatte sich jetzt in Feuer geredet, seine Augen glühten. »Etwas kann also existieren und doch gar nicht wirklich sein. Und was ist wirklich? Nach Hegel einzig und allein die Welt, die ganz Geist, und der Geist, der ganz Welt geworden ist! Vollkommene Identität von Subjekt und Objekt! Nichts anderes meinte Hegel mit seinem missverstandenen Satz: ›Das Wirkliche ist vernünftig, und das Vernünftige ist wirklich.‹ Er wollte damit sagen: Was vernünftig ist, soll sein. Und gemessen an Hegels Maßstab muss unser k. u. k. Philisterreich ein schrecklicher Irrtum genannt werden – mit seinem ewigen Fortwursteln, seinem Kompromisslertum, seiner verdammten Gemütlichkeit. Mit Vernunft hat all dies doch nichts zu tun. Die Verhältnisse hier sind dermaßen unter aller Kritik, dass ich manchmal bezweifle, ob man Österreich-Ungarn auch nur – auf der allerniedersten philosophischen Stufe – ein simples Daseinsrecht zuschreiben soll. Fühlen Sie dennnicht, dass die Wände, die uns umgeben, jederzeit umkippen könnten wie eine Bühnenattrappe? Vielleicht ist auch der bestirnte Himmel über uns nur eine erhabene Lüge? Sitzen wir überhaupt in dieser Bar hier, mein junger Freund? Womöglich ist alles nur eine Illusion, ein gewaltiger Schwindel. « Der Fernsehphilosoph breitete die Arme aus und deutete im Sitzen eine ironische Verbeugung an: »Guten Abend, messieurs dames, wir präsentieren die Spätausgabe der Nachrichten aus Niemalsland.«
    Hier bestellte und kippte André Malek einen zweiten Whisky, einen doppelten diesmal, und so beschwingt zitierte er einen berühmten Vierzeiler von Heine:
    Oh, dass ich große Laster säh,
Verbrechen, blutig, kolossal –
Nur diese satte Tugend nicht
Und zahlungsfähige Moral.
    »Sie wissen, mon ami, ich bin ein Anhänger der Französischen Revolution«, fuhr André Malek fort. Selbstverständlich wusste Alexej von Repin das, wie hätte es ihm entfallen können? Malek schrie seine Sympathien ja in jeder zweiten Fernsehsendung in die Öffentlichkeit hinaus. Diese nahm solche Ausbrüche mit einem gleichgültigen

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