Der Komet
indem sie ihre Soldaten mit Flammenwerfern gegen die Aufständischen vorgehen ließen. »Es steht uns nicht an, diese gewiss bedauerlichen Vorkommnisse zu kritisieren«, hatte die Neue Freie Presse dazu verlautbart. »Im Fernen Osten gelten fundamental andere kulturelle Maßstäbe als im christlichen Abendland: Wir können vom japanischen Kaiserreich also nicht erwarten, dass es sich ebenso gesittet aufführt, wie man das bei uns im Abendland unter den Bedingungen einer konstitutionellen Monarchie erwarten darf. Auch handelt es sich bei den Aufständischen nicht um gesittete Herrschaften, sondern um Pöbelhaufen, die von wilden Kriegerfürsten angeführt werden. Hochherzige Tiraden ändern nichts an den traurigen Fakten. Die Weltgeschichte ist – wie der Philosoph Hegel einst festhielt – nun einmal nicht der Boden des Glücks.« Alexej hatte leise, aber von Herzen geflucht und heißen Kaffee verschüttet. Er wusste nicht, welcher Aspekt jenes Kommentars seine Empörung mehr befeuerte: War es der feinsinnige Rassismus (»die Gelbensind halt einmal so«) oder die Abwesenheit von Mitleid mit den Opfern, unter denen sich immerhin Frauen und Kinder befanden; war es der geschwätzig-oberlehrerhafte Ton? Jedenfalls hatte sein Ärger sich den ganzen Tag über nicht gelegt – er umflatterte ihn auch jetzt noch wie ein unsichtbarer schwarzer Umhang. Unterhalb der Empörung aber gärte eine Traurigkeit, die nichts mit jenem Zeitungskommentar, nichts mit den Tragödien der Geschichte zu tun hatte, die er mit seinen kurzen Armen nie und nimmer zum Guten wenden konnte: Alexej von Repin schlurfte durch Wien, als sei im Grunde alles seine Schuld, als sei er ganz persönlich der Konstruktionsfehler, der sich in den Weltenbau eingeschlichen hatte. Denn – tief Luft geholt, tapfer der Wahrheit ins Auge geblickt – warum studierte er überhaupt Kunstgeschichte? Weil er nicht malen konnte. Das war es schon, das war im Grunde alles, was es über ihn zu sagen gab: Alexej konnte nicht malen, nur bewundern. Er lebte ein Leben aus zweiter Hand.
Vielleicht wäre ihm das nur halb so arg vorgekommen, wenn es sich bei seinem Urgroßvater nicht um ein Genie gehandelt hätte; aber Ilja von Repin – den der Zar anno 1917 in den Adelsstand erhoben hatte – war nun einmal eines, das konnte niemand bestreiten. (Dass Alexej die Porträts und Genrebilder seines Urahnen schuldbewusst liebte, versteht sich beinahe von selbst.) Er war der Nachkomme eines großen Malers, und seine gesamte Existenz taugte so viel wie eine taube Nuss. Weitere Pagodentürme im vielfach verschachtelten Palast seiner Traurigkeit: Es war ein scheußlicher Tag geworden – Alexej spürte in den Knochen, wie der graue Herbst mit seinen Nebeln zwischen den Bürgerhäusern herangepirscht kam. Wien kam ihm immer noch fremd vor, verwirrend. Und circa 80 Kronen mussten ihm, wie Alexej kurz im Kopf überschlug, von nun an bis zum Monatsende reichen; ohne Geld wirdaber jede Stadt sofort kleiner, das traf sogar auf die prächtige Haupt- und Residenzstadt zu. Am dunkelsten freilich ging es in einer gewissen Kammer zu, die genau in der Mitte seines betrübten Da- und Soseins lag. Dort fiel überhaupt kein Licht hin; dort lagerte ein Geheimnis, über das er noch nie gesprochen hatte, mit keinem Menschen (schon gar nicht mit seinem Freund Thomas, der sich eines sagenhaften Glücks bei Frauen erfreute, obwohl er in den Hüften etwas breit geraten war). Hier also Alexej von Repins schmerzlich-banales Geheimnis: Er hatte die 21 längst überschritten und war noch nie von einer Frauenhand berührt worden. Er hatte auch noch nie einen Kuss gegeben oder empfangen. Er war es ganz offenbar nicht wert, dass man ihn liebte. Doch die Erinnerung an Barbara Gottlieb war tief in ihm geblieben, sie verstörte ihn in seiner Hoffnungslosigkeit. Ihre Telefonnummer allerdings hatte er vergeblich in dem großen dicken gelben Wiener Telefonbuch gesucht; wahrscheinlich würde er nie wieder in diesem Leben mit ihr sprechen.
So trottete Alexej von Repin dahin. Als er das große neugotische Rathaus im Rücken wusste und sich gerade anschickte, jenen Teil der Ringstraße zu überqueren, der nach Kaiser Franz II . benannt ist, spürte er plötzlich eine Hand schwer auf seiner Schulter ruhen. »Warum so betrübt, junger Freund?«, sagte eine Stimme laut. »Das Leben ist viel zu kurz für Traurigkeit.« Es war der Fernsehphilosoph, jener bewusste Franzose. Seinen grauen Schopf hatte immer noch kein Kamm berührt,
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