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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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sein Stoppelbart glitzerte silbern im Licht der Straßenlaternen, die mittlerweile aufgeflammt waren. Er habe vor, einen Happen essen zu gehen, kündigte André Malek an: ob Alexej ihm wohl die Ehre erweisen wolle, ihn zu begleiten, er sei selbstverständlich eingeladen. Alexej sagte sofort zu. Daslag zum einen daran, dass er schon seit dem frühen Nachmittag tapfer seinen Hunger unterdrückte (sein Kontostand ließ ihm keine andere Wahl); zum anderen fühlte er sich dermaßen einsam, dass ihm plötzlich jede Gesellschaft recht war, auch wenn es bedeutete, dass er diesen selbstgefälligen und aggressiven Mann ertragen musste. (Er hatte an diesem Tag noch mit keiner Menschenseele ein Wort gewechselt.) Gemeinsam steuerten sie also das nächste beste Lokal an.
    Nachdem sie sich niedergelassen und bestellt hatten – Alexej entschied sich für ein Backhendl und Wasser, Malek für eine Gulaschsuppe und ein Viertel Wein –, fragte sein Gastgeber ihn: »Wie heißen Sie eigentlich?« Und als Alexej es ihm gesagt hatte, reagierte Malek mit dem Ausruf: »Sie stammen also aus Russland! Das ist wunderbar, wirklich wunderbar.« Alexej wusste nicht, was an diesem Umstand wunderbar sein sollte. Meistens wurde es für ihn schnell peinlich, wenn im Gespräch herauskam, dass er Russe war; die Standardweisheit über Russland lautete in Wien: »Dort drüben hat es keine Reformen mehr gegeben, seit Nabokov zum Ministerpräsidenten gewählt wurde«
Hinweis
, und das war 1922 gewesen. Naturgemäß handelte es sich hier um eine vergröbernde Übertreibung, sie barg aber einen Kern der Wahrheit: Das Zarenreich war immer noch unterentwickelt, ziemlich unaufgeklärt, jedenfalls wenn man es mit der Donaumonarchie verglich. Seine Geschichte im 20. Jahrhundert glich auf verblüffende Weise dem Schicksal eines berühmten russischen Romanhelden: Ilja Iljitsch Oblomow. So wie die liebenswert-tragische Schlafmütze, die Iwan Gontscharow in seinem großen Roman schildert, war es dem Zarenreich nie gelungen, sich von seinem Diwan zu erheben. Die gesamte russische Existenz drehte sich sozusagen um das Nickerchen am Mittag, während das ererbte Gut verfiel. Korruption und Vetternwirtschaftblühten; die orthodoxe Kirche predigte, diese Lethargie sei von oben beschert. Gewiss, auch das Zarenreich hatte längst den Übergang von einem Bauernland zum modernen Industriestaat vollzogen (so wie das Königreich Schweden, das von ähnlichen oder doch vergleichbaren ökonomischen Voraussetzungen ausgegangen war). Aber die Wendung »russische Wirtschaft« stand im allgemeinen Sprachgebrauch immer noch als Synonym für Schlamperei; böse Zungen meinten, Kreativität bewiesen russische Ingenieure nur bei der Erfindung von Ausreden, wenn wieder einmal etwas nicht funktionierte. (Das war ein wenig ungerecht: Russland stellte erstklassige Elektromobile her.) Der neue Zar galt als Dummkopf. Dass die Kaiser-Gemahlin in Schönbrunn eine nahe Verwandte von ihm war – es handelte sich um seine Tante –, wurde meist schamhaft übergangen. Schlicht und einfach: Es war nicht chic, Russe zu sein (ein weiteres Pagodentürmchen im großen Palast von Alexejs Traurigkeit). Plötzlich wurde ihm just etwas, dessen er sich schämte, als Vorzug ausgelegt. Er war dermaßen überrumpelt, auch dankbar, dass er sofort »Ja« sagte, als André Malek – der während des Essens übrigens vier Gläser Rotwein geleert hatte – ihm anbot, noch einen kleinen Verdauungsspaziergang zu unternehmen.
    Während des Spaziergangs fasste Alexej immerhin so viel Vertrauen zu André Malek, dass er ihm einen kleinen Einblick in sein Inneres gewährte. Selbstverständlich nicht in jene verschwiegene Kammer seiner Seele, die er stets hinter Schloss und Riegel hielt; er ließ Malek aber frei an seiner Empörung teilhaben, er schimpfte auf die Neue Freie Presse (»Die haben die Weisheit mit Silberlöffeln gefressen!«) und die Japaner (»Unmenschen! Ungeheuer!«), er beklagte die Zeitläufte und fand auch ein paar deutliche Schimpfwörter für die selbstgefälligen k. u. k. Untertanen, die hier ihre Gemütlichkeit pflegten,während anderswo der nackte Schrecken herrschte. Als er seine Philippika beendet hatte, blieb André Malek mitten auf der Straße stehen und lachte, wobei er seine Zähne (gelb, groß, schief) fletschte. »Willkommen in der wüsten Wirklichkeit!«, sagte der Philosoph. Zufällig fanden er und Alexej sich in diesem Moment vor der Kärntner Bar wieder; nichts lag näher, als hineinzugehen.

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