Der Komet
lagen als bizarre rote Farbtupfer im Atlantischen Ozean (sahen sie nicht wie ein lachender Mann aus, der gen Westen blickte und einen abenteuerlich geformten übergroßen Hut aufhatte?). Das britische Weltreich zog sich quer und rot-weiß über den ganzen Planeten – wie ein starkes Rückgrat. Frankreich dagegen war grün; und grün kariert sah Alexej (ohne in seiner Verzweiflung klar zu sehen) Französisch-Westafrika und Madagaskar und Indochina und verschiedene in der Karibik verstreute Inseln. Das Deutsche Kaiserreich war blau. Seinetwegen gehörten auch die Vorder- und die Rückansicht des Mondes wie selbstverständlich zu dieser Weltkarte. Zwei bleiche Kreise und alles von blauen Karos übersät (auf der Erde konnte man sehr viel weniger von ihnen ausmachen). Österreich-Ungarn – ockergelb. Am meisten hatte es Alexej allerdings der afrikanische Kontinent angetan. Wieviele Karos man dort – träge vor lauter Trübsinn – zählen konnte: rote, grüne und blaue. Und auch noch andere. Die roten Schraffuren reichten von oben (dem Sultanat Ägypten) bis nach unten zum Kap der Guten Hoffnung (die Südafrikanische Union). Nur ein Flecken in der rechten oberen Ecke des Kontinents blieb weiß wie die Unschuld: das christliche Kaiserreich Abessinien – es war nie kolonisiert worden.
Vor Alexejs Augen begannen nun die Farben und die Karos zu flimmern. Es wunderte ihn kaum, als sie sich vom Erdenball lösten, als sie zu schweben und wild zu tanzen anfingen, als sie sich schließlich in der Weite des Alls verteilten. Bald war die Venus grün kariert, sie öffnete den Mund und sagte: »Le train est arrivé à la Gare de l’Ouest.« Der Mars gab sich rot als Brite zu erkennen, trotzig meldete er: »Humpty Dumpty sat on a wall.« Das Deutsche Kaiserreich, blaue Karos, eroberte den Saturn mit seinen Monden und Ringen. Alexejs linke Hand ruhte auf dem Zettel mit den Aufgaben, die er eigentlich hätte lösen sollen; vor ihm lag aufgeschlagen das Schulheft, dessen Zeilen grauenhaft leer blieben; in der kraftlosen Rechten hing schief sein Füllfederhalter. Mit einem Mal kamen die knarrenden Schritte von Pater Müller näher: »Träumst du?«, fragte der Lehrer scharf und sehr laut direkt neben ihm. Alexej fuhr hoch, seine Mitschüler lachten, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken.
Träumte er? »Der Imperialismus ist das höchste Stadium der menschlichen Verderbnis.« Zu viel karelischer Wodka. Ihm gegenüber saß immer noch der Fernsehphilosoph. Hatte Alexej nicht gerade eben eine wichtige Frage auf der Zunge gelegen?
»Was ist mit der Vendée?«, wollte Alexej von Repin wissen.
»Kennen Sie Lenin?«, fragte André Malek zurück.
»Nein. Wer ist das?« (Alexej war etwas verwirrt, weil Malek plötzlich das Thema wechselte.)
»Lenin«, erwiderte der Philosoph ohne ein Wort der Erklärung, »war ein Landsmann von Ihnen. Eigentlich hieß er Wladimir Iljitsch Uljanow. Lenin hätte das Zeug zu einem großen Mann gehabt; wie es kam, hat er es leider nur zu einem zänkischen Journalisten in Zürich gebracht und ist dort – wie man so nett sagt – arm und verbittert gestorben. Eine Tragödie. Lenin wäre der Einzige gewesen, der den Marxismus vor dem Schicksal hätte retten können, das ihn nicht nur hier in der Monarchie ereilt hat, der Verbürgerlichung. Aber lassen wir das sein, ich will Ihrer Frage nach der Vendée gar nicht ausweichen, mon ami. Ich schlage nur vor, dass wir zahlen und die Lokalität wechseln – ich habe noch ein paar Flaschen Grünen Veltliner im Eiskasten.«
Es war bemerkenswert, verblüffend: André Malek torkelte nicht, er lallte nicht, er zeigte überhaupt kein Anzeichen, dass ihm ein Rotweinsee im Bauch herumschwappte, den er mit unverdünntem Whisky angereichert hatte. Wenn der Alkohol überhaupt eine Wirkung auf ihn hatte, so bestand sie darin, dass er noch schärfer formulierte, dass die Gedankenblitze bald mit Lichtgeschwindigkeit durch seine Hirnwindungen jagten, während er mit weit ausgreifenden Gesten so sprach, als stünde er vor einem unsichtbaren Auditorium. Malek und Alexej stiefelten den Kärntner Ring entlang zum Schwarzenbergplatz, wobei der Philosoph ihm haarklein auseinandersetzte, warum der große Hegel sich in seiner »Ästhetik« leider ganz fundamental geirrt habe; vor allem das, was dort über Musik geschrieben stehe, sei der blühende Blödsinn. Am Schwarzenbergplatz angelangt, stiegen sie in die Elektrische (naturgemäß fuhren sie schwarz), und während sie mit der Linie
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