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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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unter dem Hallendach geschwebt. Leider war der Grenzbeamte, mit dem Dudu Gottlieb dann zu tun bekam, ein missgelaunter Schwabe mit goldenem Kneifer. Der Beamte rasselte seine sechs obligatorischen Fragen herunter – erstens, was führt Sie auf den Mond?; zweitens, haben Sie vor, länger zu bleiben?; drittens, können Sie eine Rückflugkarte vorweisen?; viertens, haben Sie Verwandte hier?; fünftens, führen Sie zollpflichtige Waren mit sich?; sechstens, ist Ihnen bewusst, dass Rauchen auf dem gesamten Mond streng untersagt ist? –, dann knallte er Dudu mit gerunzelter Stirn seinen Stempel in den Pass.
    Gleich hinter der Grenzstation stand ein Kiosk, wo man fremde Währungen in Goldmark umtauschen konnte. Und neben dem Kiosk erblickte Dudu Gottlieb eine vertraute Gestalt: Dort lehnte burschikos und lässig Siegfried Katz, ein Kollege aus Hamburg. Dudu kannte ihn von verschiedenen wissenschaftlichen Kongressen, er schätzte ihn sehr und mochte ihn überhaupt nicht. Katz hatte einen dunklen Teint und schwarzes gewelltes Haar; er trennte das S vom T und P, wie es die Norddeutschen tun (»Der Hund s-prang über S-tock und S-tein«), was sich in Dudus galizianischen Ohren nicht nur affektiert, sondern auch arrogant anhörte. Doch Siegfried Katz bildete nicht das gesamte Begrüßungskomitee. Er führte eine Begleiterin im Schlepptau, eine zierliche junge Dame mit kurzem blondem Schopf, elfenhaftem Gesicht und sehr blauen Augen. »Willkommen auf dem Mond«, sagte die junge Frau und streckte Dudu Gottlieb ihre Hand entgegen.»Ich heiße Selene« (wie sie den Namen aussprach, reimte er sich auf »Helene«, Betonung auf der zweiten Silbe). »Ich bin die Assistentin von Professor Katz.« Jener hielt sich gar nicht erst mit Höflichkeit und Händeschütteln auf. »Wir haben hier oben ein unersprießliches (›uners-prießliches‹) Problem, Herr Geheimrat«, sagte Siegfried Katz. »Vielleicht steht (›s-teht‹) die Welt nicht mehr lange. Wenn Sie uns bitte folgen wollen.«

III.
Kummer und Geschichtslektionen
    Zwei Wochen später ging Alexej von Repin durch das Häuserlabyrinth der Josefstadt. Er schlenderte ohne Plan oder Ziel, er flanierte nur so vor sich hin. Er wanderte die Lazarettgasse entlang, die wohl deshalb so hieß, weil das Krankenhaus gleich hinter ihr lag, bog nach links in die Pelikangasse ab (vorbei an einer großen Metzgerei, die, wie die hebräischen Schriftzeichen in ihrem Schaufenster verrieten, mehr war als nur koscher, nämlich »glattkoscher«), überquerte die Alserstraße, ließ willenlos zu, dass seine Füße ihn die Kochgasse entlangtrugen (hier kam Alexej ein Pulk von Talmudschülern entgegen, nicht umsonst hieß die Leopoldstadt »Mazzesinsel«); er bog am Post- und Telegrafenamt (eigentlich seltsam, dass es so hieß, telegrafierte denn heute noch jemand?) wiederum links in die Florianigasse ein und spazierte am Schönbornpark vorbei (einer angestaubten grünen Oase in diesem steinernen Meer); und dann, während hinter ihm rostrot das Tageslicht im Westen versank, folgte er der Straße einfach immer weiter auf den Ring und die Innere Stadt zu. Er hatte bis zum späten Nachmittag in einem Seminar über die Kunst der Spätantike gesessen, aber kaum etwas vom Lehrstoff in sich aufgenommen; in seiner Seele kochten allerhand halb gare Gedanken. Jetzt war Alexej von Repin traurig auf eine Weise, wie wahrscheinlich nur sehr junge Männer traurig zu sein vermögen. Wäre ihm jemand hinterhergegangen, wie er da zwischen grauen Patrizierhäusern auf dem Gehsteig dahintrottete (die Elektromobile surrten auf der linken Straßenseite an ihm vorbei
Hinweis
), so hätte dieser Jemand bemerkt, dass Alexejs Schultern wievon einer Last nach unten gedrückt wurden, dass seine Schritte mutlos und klein waren, dass er den Kopf hängen ließ.
    Bei genauer Betrachtung erinnerte die stille Verzweiflung des Alexej von Repin an einen chinesischen Pagodenbau: Sie war aus vielfältigen Motiven zusammengesetzt, ein geschwungenes Dach türmte sich über das nächste in den trüben Himmel hinein. Die äußerste Hülle von Alexejs Traurigkeit war allerdings jugendfrische Empörung: Er hatte heute früh, während er seine Melange trank und in der Zeitung blätterte, gesehen, wie die Neue Freie Presse die jüngsten Massaker in Mukden und Fuschun kommentierte. Erst kürzlich hatte sich die Mandschurei gegen die japanische Fremdherrschaft erhoben (nach einem Jahrhundert der bitteren Unterdrückung!); die Japaner reagierten darauf,

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