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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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vergewaltigten Frauen, von Säuglingen, die auf Bajonette gespießt wurden, von Reitstiefeln aus der gegerbten Haut der Opfer, von Männern, Frauen, Kindern, die man in alte Fischerboote packte und in der Flussmitte aussetzte – dann wurde das Boot mit ein paar Axthieben versenkt, und alle jene, die nicht ertranken, sondern ans Ufer schwammen, erschlug das scharfe Schwert der Revolution, zunächst nur heimlich bei Nacht, aber bald auch tagsüber, jeder konnte es sehen: Diese Prozedur hieß »das nationale Bad«. Es wurden auch Frauen und Männer aneinandergefesselt und im Wasser ertränkt: Dies nannten die Mörder »die republikanische Hochzeit«. Und alles im Namen der heiligen Menschenrechte. »Liberté, Egalité, Pfefferminztee«, sagte Pater Prohaska; ein bisschen Sarkasmus musste wohl sein, aber niemand lachte. Er las seinen Schülern auch den Brief vor, den General Westermann an den Wohlfahrtsausschuss in Paris richtete, nachdem er am 20. Juni 1793 das Dorf Partenay angegriffen hatte: Il n’y a plus de Vendée. Elle est morte sous notre sabre libre, avec ses femmes et ses enfants. Je viens de l’enterrer dans les marais et dans les bois de Savenay. Je n’ai pas un prisonnier à me reprocher. J’ai tout exterminé. Zu deutsch: »Es gibt keine Vendée mehr. Sie ist mit unserem Säbel der Freiheit niedergemacht worden, mitsamt Frauen und Kindern. Ich habe sie in den Sümpfen und Wäldern von Savenay begraben. Man kann mir nicht vorwerfen, ich hätte Gefangene gemacht. Ich habe alles ausgelöscht.« Drei Jahre lang – bis 1796 – wüteten die Heere der Revolution auf Befehl der jakobinischen Junta im fernen Paris gegen die Einwohner der Vendée; am Ende war inmanchen Teilen dieses verwüsteten Landstrichs mehr als ein Viertel der Bevölkerung umgekommen. Die meisten von ihnen, wie gesagt, bitterarme katholische Bauern, die weder lesen noch schreiben konnten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
    Kein größeres Verbrechen hatte sich seither in Europa ereignet.
    André Malek sprach weiter, er redete vom Imperialismus, bezeichnete ihn als »höchstes Stadium der menschlichen pourriture «, aber Alexej gelang es nicht mehr, ihm zu folgen. Seine Gedanken hatten sich in den barocken Korridoren des Stiftsgymnasiums Melk verirrt, und dort – in der Vergangenheit – trieben sie sich nun eine Weile herum. Leider hatte Alexej es im Gymnasium nicht nur mit František Prohaska zu tun bekommen, der sein Freund gewesen war (sofern Lehrer und Schüler jemals wirklich Freunde sein können), sondern auch mit Pater Josef Müller. Ein Deutscher aus Paderborn, den es aus kuriosen Gründen in die Wachau verschlagen hatte; er litt unter Heimweh und verachtete die unordentliche Donaumonarchie. Pater Müller war ein hagerer, hoch aufgeschossener Mann: Hornbrille, Stirnglatze, glatt rasiert, helle Augen, schwaches Kinn, seine Lippen schlossen sich zu einem festen Strich. Pater Müller war vom ersten Tag an Alexejs Feind, ohne dass es für diese Feindschaft eines besonderen Grundes bedurft hätte. (Vielleicht rührte die Animosität daher, dass dieser Schüler Russe und dazu auch noch adelig war? Vermuten ließ sich vieles.) Das Fach, das Pater Müller unterrichtete, war Geografie; offiziell hieß es »Geografie und Wirtschaftskunde«. Mit seiner offenen, geradezu blitzenden Feindseligkeit erreichte dieser Lehrer, dass Alexej schon nach kurzer Zeit keinen Schimmer mehr hatte, wo auf der Landkarte wohl Peru zu finden war und an welchem der sieben Weltmeere erSt. Petersburg vermuten sollte; geschweige denn, dass er anzugeben gewusst hätte, welches denn die Hauptexportgüter des Königreichs Bulgarien waren. (Orienttabak, Rosenöl, Maschinen für die Landwirtschaft, Erdgas, Rohmetall, Billigtextilwaren, Strom.) Das schlimmste Malheur war Alexej aber in einer Stunde passiert, in der er eine schriftliche Prüfung bestehen sollte.
    Alexej hatte trotz intensiven Büffelns keine der Antworten gewusst. Nicht eine einzige. Also hatte er angefangen, stumpf und verloren vor sich hin zu starren. Blicklos hatte er auf die große Weltkarte geblickt, vor der Pater Müller mit knarrenden Schritten auf- und abging. Nichts Neues unter der Sonne: fünf oder sechs Kontinente – je nachdem, ob man die (inzwischen auch von den Deutschen kolonisierte) Antarktis einrechnete –, verschiedene Nationalstaaten, ein paar Imperien. Die Mutterländer erschienen in den Grundfarben, die Kolonien waren jeweils mit Karomustern schraffiert. Die britischen Inseln

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