Der Komet
Manier jeweils den Auftritt des schwarzen Ritters ankündigte: Ta-ta-tá-ta-tatáa-ta-tatáa … wäre er jetzt nicht den Hügel hinauf nach Hause gestiegen, sondern linker Hand abgebogen, dann hätte er sich nach einem Gang durch ein Waldstück bald in der Gloriettegasse 9 wiedergefunden, also vor jenem anmutigen Gebäude, das Franz Joseph I. seiner heimlich-offenen Geliebten Katharina Schratt geschenkt hatte. Nur ein paar Schritte weiter lag das Haus in der Maxingstraße 18, in dem Johann Strauß anno 1873 seine »Fledermaus« komponiert hatte; in der Nummer 24 hatte einst der Verleger Paul von Zsolnay residiert. Und wenn man erst einmal dort war, stand man eigentlich schon mit einem Bein in Schönbrunn. Dr. Anton Wohlleben gab manchmal damit an, dass der Kaiser sein Nachbar sei, auch wenn dies nicht ganz den schnöden Tatsachen der Geografie entsprach …doch heute wanderte er nicht nach Schönbrunn hinüber. Heute war er froh, wenn er bald nach Hause kam.
Er drehte den Schlüssel im Schloss herum und stellte befriedigt fest, dass seine Haushälterin das Licht in der Küche hatte brennen lassen. Außerdem wartete auf dem marmornen Küchentresen eine zugedeckte Schüssel, die er nur in den Mikrowellenofen zu schieben brauchte – voilà, schon hatte er ein spätes Nachtmahl: Die Topfenknödel seiner Haushälterin waren mit Recht im gesamten XIII . Bezirk berühmt, ebenso wie ihr selbst gemachter Zwetschgenröster.
Dr. Anton Wohlleben stellte, nachdem die notwendigen Handgriffe erledigt waren, die dampfende Schüssel und ein Glas kühlen Weißwein aus der Wachau auf ein Tablett; über zwei steile Stiegen kletterte er in das komfortabel ausgebaute Dachgeschoss seiner Villa hinauf. Er hatte dort oben bei der Renovierung ein großes Fenster einsetzen lassen, sodass er nun einen sehr schönen Ausblick hatte: Er schaute über die letzten Ausläufer der Stadt hinweg direkt in den Lainzer Tiergarten hinein – es war beinahe wie auf dem Hochsitz eines Försters: Bäume, Wälder, weite Wiesen, zwei Kirchtürme in der Ferne, ein ungetrübtes Idyll im Mondlicht … nachdem Dr. Wohlleben sein Tablett auf dem Tisch abgesetzt hatte, begann er, mit dem gebührenden Nach-Opern-Heißhunger zu schmausen.
Leider fiel ihm mitten im Essen prompt sein schwieriger Patient wieder ein. Sein Problem war keineswegs ungewöhnlich: August Biehlolawek litt unter Albträumen, unter grässlichen Nachtmahren. Oft schreckte er mit lauten Schreien aus dem Schlaf hoch. Seit ein paar Monaten fantasierte der Mann jetzt schon vom Weltuntergang. Ihm träumte, Europa sei von einem oder zwei (warum nichtgleich drei oder vier?) Kriegen verwüstet worden; die Kultur liege in rauchenden Trümmern, der Kaiser residiere nicht mehr in Schönbrunn; von der Alten Welt sei nicht einmal mehr eine Erinnerung übrig geblieben – alles wüst und leer. Und durch diese Leere irrte in jenen Träumen als einziger Überlebender er, der Diplom-Ingenieur August Biehlolawek, ohne Trost und mutterseelenallein, bis ihn das Echo seiner eigenen Stimme gnädig aus dieser wüsten Traumwelt riss. Er zittere (so berichtete er) manchmal noch eine Stunde hinterher. Es war schon so weit gekommen, dass er ungern einschlief, weil er sich vor den Schrecknissen fürchtete, die ihn unweigerlich auch in dieser Nacht wieder heimsuchen würden.
Im Prinzip war es keineswegs unmöglich, ja es war noch nicht einmal besonders schwierig, diese Albträume zu deuten. Träume sind Wunscherfüllung – mit diesem Lehrsatz, den man durchaus als Dogma ansprechen konnte, stand und fiel die psychoanalytische Lehre. Jawohl: ausnahmslos alle Träume – auch Horrorvisionen, in denen sich meist Sexualneurosen kreischend Ausdruck verschaffen. Und was ist mit Leuten, die nicht unter sexuellen Verklemmungen leiden? Auch für sie gilt, was Sigmund Freud in seinem so profunden wie gewitzten Hauptwerk festhielt: dass ihre Traumwünsche nämlich das Tageslicht zu scheuen haben. Aus den dunkelsten Kellern des Unbewussten sind sie emporgestiegen und halten sich nun in den dämmerigen Kammern des Vorbewussten auf. Diese verschwiegenen Wünsche haben es überhaupt nur darum so weit nach oben geschafft, weil im Schlaf auch die Traumzensur ein Nickerchen einlegt, ihre Arbeit also nur ganz unzulänglich erledigt. Übrigens stellen wir uns jene Traumzensur besser nicht wie eine Filiale der spanischen Inquisition vor, eher wie eine behäbige k. u. k. Behörde, die aucheinmal die Fünfe gerade sein lässt. Im Schlaf
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