Der Komet
gelingt es ihr nicht mehr, jene Wünsche zu unterdrücken, die der Mensch aus Scham auch vor sich selbst geheim hält; die Traumzensurbehörde schafft es gerade noch, diese Wünsche zu zwingen, dass sie sich verkleiden, dass sie Mimikry anlegen, dass sie nicht als sie selbst auf die nächtliche Bühne treten.
Was wünscht sich nun also ein Mensch, der immerzu vom Weltuntergang träumt? Welches kettenklirrende Gespenst hatte sich da aus dem Schattenreich des Unbewussten losgerissen? Eine Sexualneurose? Nein. Freud notierte fast beiläufig, dass ein Mensch, der im Schlafe phantasiert, ein naher Angehöriger sei gestorben, und hierüber im Traum tiefe Trauer empfindet, jenem Menschen in Wahrheit den Tod wünscht (oder ihm den Tod zumindest irgendeinmal gewünscht hat, womöglich als Kind). Schlussfolgerung und Ausweitung: Wer sich auf übertriebene Weise vor dem Weltuntergang fürchtet, sehnt ihn klammheimlich herbei. Vielleicht nicht gerade den Untergang der gesamten Welt, dachte Dr. Wohlleben, aber doch immerhin den Untergang seiner ganz privaten Welt: die Annahme, dass Diplom-Ingenieur Biehlolawek sich in seiner allzu behaglichen Existenz ein wenig langweilte, war jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Wenn der Kaiser im Traum nicht mehr auf seinem Thron saß, bedeutete dies einfach, dass die väterlichen Autoritäten abgedankt hatten. Das Entsetzen, das Biehlolawek hierüber im Traum empfand, war der Versuch der Traumzensur, den Wunschcharakter seiner Vision vor ihm zu verschleiern.
So weit war Dr. Anton Wohlleben der Fall sonnenklar. Aber woher nahm sein Patient nur die makabren Einzelheiten, mit denen er seine nächtlichen Visionen ausstaffierte?
August Biehlolawek träumte von Stacheldraht, der auf Schlachtfeldern aufgespannt wurde: Dr. Wohlleben hatte diese Vokabel erst einmal nachschlagen müssen. Stacheldraht war also ein Industrieprodukt, das auf amerikanischen Weiden verwendet wurde, um Rinder einzuzäunen. Die Japaner hatten dieses Material auch im Kriege eingesetzt (aber das waren eben die Japaner, diesen Barbaren mochte man alles zutrauen); in Europa hatte man dergleichen noch nie zu Gesicht bekommen. Dann war da die Sache mit den Bomben: August Biehlolawek stellte sich im Schlaf vor, solche Höllenapparaturen seien massenhaft auf bewohnte Städte abgeworfen worden – und zwar aus Flugzeugen herunter. Wie sollte das technisch gehen? Es war ja ganz unmöglich. Gewiss (auch hier hatte Dr. Wohlleben sich vorsichtshalber kundig gemacht), bei der Belagerung von Venedig war es den Österreichern anno 1849 gelungen, Bomben von unbemannten Ballons tragen zu lassen; die meisten von ihnen aber hatten ihr Ziel kläglich verfehlt – es handelte sich also um eine sehr uneffektive Methode der Kriegsführung. Und was war mit jenen Stahlkolossen auf Raupen gemeint, die in Biehlolaweks mitternächtlich blühender Phantasie Menschen und Saaten niederwalzten? Dies klang nach etwas aus einem utopischen Roman von H. G. Wells (aber in seinem berühmten Krieg der Welten hatte Anton Wohlleben nachgesehen und nichts Vergleichbares gefunden). Auffällig absurd auch, dass die Träume des Herrn Biehlolawek ihm vorgaukelten, Soldaten trügen Uniformen in den Farben von Schlamm, um sich somit zu tarnen – statt jener farbenfrohen Livreen, die sie in der taghellen Wirklichkeit schmückten. So etwas hätte jedem Soldaten der k. u. k. Armee als unheldisch gegolten, als feige und unritterlich. Uniformen hatten schließlich eine Funktion, die jedermann einleuchtete: Sie sollten den Soldaten sowohlaus- als auch kennzeichnen, damit im Eifer des Gefechts nicht etwa versehentlich Zivilisten erschossen wurden.
Freilich handelte es sich mehr um eine Theorie als eine auf dem Schlachtfeld erprobte Praxis. Nach dem (allerdings grauenhaften) deutsch-französischen Gemetzel anno 1871 war das christliche Abendland im 20. Jahrhundert von der Geißel des Krieges weitgehend verschont worden (wenn man, dachte Anton Wohlleben, vom »Anschluss« des Jahres 1938 und der »Heimholung« von 1941 absah). Wo nahm der gute Diplom-Ingenieur diesen Wahnsinn also nur her?
Die Psychoanalyse lehrte, dass der Träumende als sein Traummaterial die übrig gebliebenen Reste vom Tage – irgendwelche beiläufigen Erinnerungen – verarbeitet. Welche Tagesreste, bitte schön, waren Stacheldraht, Flugzeugbomben, Raupenkolosse, Schlammuniformen? Und aus welcher tellurischen Schicht stiegen jene Visionen empor, die den braven Diplom-Ingenieur neuerdings plagten:
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