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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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bei denjüngsten Wahlen zum Wiener Gemeinderat freilich 29 Prozent der Stimmen geholt hatte), so merkte man ihm das jedenfalls nicht an. Im Übrigen hegten die Antisemiten im tiefsten Grunde ihrer Herzen (aus denen man ja keine Mördergruben machen soll) nicht den Wunsch, dass die Israeliten von heute auf morgen aus der Monarchie verschwänden – welch absurde Vorstellung! Über wen hätten sie sich in einem solchen Fall denn noch aufregen sollen? Mithin war es nur logisch anzunehmen, dass August Biehlolawek gar nicht wirklich »Juden« meinte, wenn er von Juden träumte. Repräsentierten sie ihm etwa (wie der Kaiser) das Alte, Überkommene, das Gesetz, die Zehn Gebote vom Berge Sinai, also irgendwie: sein eigenes Über-Ich? Wünschte er insgeheim dessen Auslöschung? In dieser Richtung lag wohl die Antwort, wenn man nach ihr suchen wollte.
    Nachdem der arme Diplom-Ingenieur im Zustande großer Verstörung die Praxis verlassen hatte – auch dieses Mal hatte Dr. Wohlleben ihm keine Hilfe bieten können –, blieben dem Arzt ein paar Stunden Zeit, ehe er seine Aufmerksamkeit dem nächsten Patienten zuwenden musste. In diesen Stunden fing er an, den Fall des August Biehlolawek noch einmal unter einem ganz neuen Blickwinkel zu betrachten und zu überdenken. Was Anton Wohlleben dabei auffiel, war nicht so sehr der Inhalt der Albträume als vielmehr der Umstand, dass sie immer und immer wiederkehrten; sollte man nicht nachgerade von einem Wiederholungszwang sprechen? Jeder vernünftige Mensch würde nun erwarten, dass es dem Unbewussten, wenn es etwas stur repetiert, um die Erzeugung von Lustgefühlen zu tun ist – hier aber wurde offenbar das glatte Gegenteil erzeugt: die schmerzhafte Wiederholung eines Unlustgefühls –, solltedie Angelegenheit nicht beinahe dämonisch genannt werden?
    Wenn sich in Dr. Wohllebens Kopf ein Gedanke formte, aber im Unterholz des Vagen und Unverständlichen verbarg wie ein scheues Wild, dann pirschte er sich häufig an diesen Gedanken heran und zwang ihn ins Offene, indem er versuchte, ihn laut auszusprechen. Extra zu diesem Zweck lag in seiner Schreibtischschublade immer ein handliches Diktaphon (keines von den bekannten Qualitätsprodukten aus dem Deutschen Kaiserreich, sondern ein billiges böhmisches Kunststoffgeraffel; in mancher Hinsicht war Anton Wohlleben ein sparsamer Mensch). Er drückte auf die rote Aufnahmetaste und sagte: »Anmerkungen zum psychologischen Wiederholungszwang. Gibt es in der Natur etwas, das sich immer und immer wiederholt und dabei starke Gefühle der Unlust hervorruft?« Aber gewiss doch, dieser Vorgang existierte, sogar vor aller Augen: das Sterben. »Das Ziel alles Lebens ist der Tod, das weiß jeder Biologe«, sagte Wohlleben also in sein böhmisches Gerät hinein. Sollte man demnach schlussfolgern (so überlegte er mit der wachsenden Begeisterung einer allmählich heraufdämmernden Erkenntnis), dass die Psychoanalyse bisher unvollständig war, dass ihr die Hälfte ihres Horizontes fehlte, dass sie auf einem Auge blind war? Wies der denkwürdige Fall des Diplom-Ingenieurs August Biehlolawek die Forschung etwa in eine ganz neue Richtung? Wohlleben sprach ins Unreine: »Bis zu diesem Tag, bis zu dieser Stunde sind wir, die geistigen Nachfahren von Sigmund Freud, ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass den Inhalt des Unbewussten die Libido bildet, der Sexual- und Lebenstrieb. Daher das feste Dogma: Alle Träume sind Wunscherfüllung. Aber was, wenn es darüber hinaus noch etwas Zweites und Anderes gibt?«
    Nach einer kleinen Pause zitierte Wohlleben die Wortedes Mephisto aus dem »Faust«, die ihm plötzlich mit scharfem Glanz durch das Gehirn schossen: »Alles, was besteht, ist wert, dass es zugrunde geht.« Vor seinem inneren Auge stieg das haarlose, das müde Lächeln seiner Frau auf, als es im Krankenhaus geheißen hatte, jede weitere Chemotherapie wäre jetzt eine sinnlose Quälerei. Wohlleben sprach in sein Diktaphon: »Offenbar existiert in jeder lebendigen Zelle, in jeder Pflanze, in den Tieren – auch in den höheren – etwas, das sie sterben lässt; nicht anders beim Menschen. Warum sollte jene finstere Naturgewalt ausgerechnet im Unbewussten keinen Abdruck hinterlassen? Vielleicht kann man es sich so vorstellen: Die Libido weist über sich hinaus, sie führt den Menschen zu immer Neuem hin. Aber jene blinde zweite Kraft« – Dr. Anton Wohlleben wusste noch kein Wort für sie – »ist konservativ wie der Tod; sie führt immer nur zu

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