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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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werden können.

IV.
Ein schwieriger Patient
    Dr. Anton Wohlleben befand sich in nachdenklicher Stimmung. Die Nachdenklichkeit stand ihm gut zu Gesicht: Er hatte einen jener ovalen und alterslos-kahlen Gelehrtenschädel, die ohne Hornbrille nackt wirken würden; dazu trug er graue Rollkragenpullover und dunkle Sakkos. Übrigens konnte gar nicht so genau angegeben werden, was jene nachdenkliche Stimmung bei Dr. Wohlleben hervorgerufen hatte; er war sozusagen nur ganz allgemein nachdenklich, ohne dass man im Detail hätte sagen können, worüber er denn nun eigentlich nachdachte. Er hatte den Sonntag mit verschiedenen kulturellen Aktivitäten herumgebracht. Den Vormittag über war er im literarischen Salon von Barbara Gottlieb gewesen: Ein junger Ruthene hatte dort eine verstörende Novelle vorgetragen, in der ein Gespensterfluch die Bauerndörfer in Ost-Galizien aussterben ließ. Im Salon der Gottlieb hatte Thomas seinen Weg gekreuzt, ein netter Bursche; sein Onkel gehörte seit ein paar Monaten zu seinen Patienten, und er wurde nicht klug aus ihm …
    Am Nachmittag war er für ein paar Stunden im Café Central eingekehrt und hatte dort die einschlägigen Journale konsumiert. Er hatte ein Wiener Schnitzel von enormen Ausmaßen verzehrt und dabei die Neue Freie Presse durchgeblättert, er hatte ein Achterl und dann noch ein weiteres Achterl vom Blauen Zweigelt getrunken und im Prager Tagblatt geschmökert; er hatte den Pester Lloyd studiert und einen großen Braunen getrunken, er hatte Marillenpalatschinken mit Schlagobers vertilgt und die Czernowitzer Morgenzeitung gelesen; quasi als Nachgedankenschickte er einen Slibowitz hinterher. (Dr. Wohlleben verfügte über einen gesegneten Stoffwechsel: er konnte kiloweise Schmankerln in sich hineinstopfen und nahm doch nie zu.) Die provinziellen reichsdeutschen Blätter interessierten ihn naturgemäß nicht die Bohne; am meisten fesselte seine Aufmerksamkeit eine Reportage über die reichen Bestände der Nationalbibliothek von Bosnien und Herzegowina.
Hinweis
    Um viertel auf sieben hatte er gezahlt und sich von seinem Platz erhoben, um in die Hofoper zu gehen; vorher erwarb er in einem der gegenüberliegenden Zuckerlgeschäfte eine »feine Theatermischung«, die er sich dann während der Aufführung auf der Zunge zergehen ließ. Sein Zahnarzt, der alte Dr. Josef Kafka, würde ihm gewiss Vorhaltungen gemacht haben, hätte er von dieser saccharosen Schlemmerei gewusst. (Gegeben wurde etwas Klassisches: »Lukas und Lea«, eine Oper von György Lukács. Dieses bahnbrechende Werk handelt von einer wilden Rebellentruppe, die gegen einen tyrannischen schwarzen Ritter kämpft und von einer schönen Prinzessin und ihrem Bruder angeführt wird. Am Ende stellt sich heraus, dass der Tyrann so böse gar nicht ist, außerdem erweist er sich als Vater der Geschwister. Nachdem der Prinz ihn im Zweikampf übermocht hat, winkt er den beiden als weiß gewandeter und erlöster Geist aus dem Jenseits zu. Sehr berühmt: die Arie »Deinen Segen, Vater, deinen Segen!« ganz am Schluss.) Nun war die Vorstellung aus, und Dr. Anton Wohlleben wartete auf die Elektrische.
    Seit dem Krebstod seiner Frau lebte er allein in einer Villa in Hietzing. Seine Praxis lag aber immer noch im IX . Bezirk – nur einen Steinwurf von der Adresse entfernt, wo einst alles seinen Anfang genommen hatte. Heute hatte in der Berggasse 19 die »Internationale PsychoanalytischeVereinigung« ihr Hauptquartier eingerichtet, ihr gehörten alle fünf Stockwerke des Hauses; die Wohnung des Meisters war längst ein prachtvolles Museum.
Hinweis
Hier konnte man das Sofa bewundern, auf dem einst der arme »Wolfmann« und der »Rattenmann« gelegen; auf jenem Fauteuil dort drüben hatte der Seelenarzt der geplagten Ida Bauer wie auch dem kleinen Hans gelauscht, der sich so sehr vor Pferden fürchtete. Die überraschend kleinen und dunklen Räume waren vollgepackt mit Büchern und ägyptischen Götterstatuen aus Alabaster, mit Skarabäen, mit viel heidnischem Schnickschnack; ein dunkler Osiriskopf stand auf dem Schreibtisch – der alte Mann war ja ein begeisterter Sammler und Dilettant auf dem Gebiet der Altertumsforschung gewesen.
    Ehrfürchtig wurde der Besucher am Ende ins Sterbezimmer geleitet, wo Sigismund Schlomo Freud – unter Schmerzen und ohne Gott – im September 1939 seinen letzten Atemzug getan hatte. Dr. Anton Wohllebens Praxis war freilich nicht so vollgeramscht und dunkel wie die Räume von Sigmund Freud, sie bot dem

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