Der Komet
Biehlolawek war ein vierschrötiger Mann mittleren Wuchses, der schnell rot im Gesicht wurde; das Haar, das sich ihm auf dem Schädel kräuselte, war vor der Zeit weiß geworden (ihn trennten noch zehn Jahre vom Pensionierungsalter), und es stand in seine – nicht feinen, aber klaren – Züge geschrieben, dass seine Mitwelt es hier mit einem Rechner, nicht mit einem Fantasten zu tun hatte.
Wenn August Biehlolawek sich auf dem Sofa in der kahlen Praxis von Dr. Wohlleben ausstreckte, sah er sofort wie eine Fehlbesetzung aus: als sei er durch einen seltsamen, nicht näher erklärbaren Irrtum hierhergelangt. Es wäre auch verkehrt gewesen zu sagen, dass er es sich auf dem Sofa bequem machte, während Dr. Wohlleben mit Block und Bleistift in dem Sessel am Kopfende Platz nahm. Biehlolawek machte es sich im Liegen nicht etwa bequem, sondern unbequem (und konnte leider gar nicht anders); er erweckte den Eindruck, als seien zwei Arme und zwei Beine entschieden zu viele Gliedmaße, für die nicht genug Raum zur Verfügung stand, so viel er sich auch strecken und winden mochte. Diplom-Ingenieur Biehlolawek auf dem Sofa des Psychoanalytikers – das war das Jammerbild eines Menschen, der sich ganz entschieden in der falschen Situation befand.
Andererseits hatte er keine andere Wahl mehr gehabt, als sich der Psychoanalyse in die Arme zu werfen. Denn Schlafmittel und gutes Zureden seiner Gattin hatten nicht mehr geholfen; ein vierzehntägiger Urlaub an der Adria hatte ihm die erhoffte Erlösung nicht bringen können. Schließlich hatten seine drei erwachsenen Kinder – zwei Mädel, ein Bub – ihm im Chor gut zugeredet, es doch einmal mit dem berühmten Dr. Wohlleben zu versuchen. Also versuchte er es. Und als er gleich in der ersten Sitzunggewarnt wurde, die Psychoanalyse verspreche keine vollständige Heilung (sie habe nämlich nur das bescheidene Ziel, Neurosen in gewöhnliches Unglück zu überführen), da hatte ihn nicht einmal dieses Caveat mehr abschrecken können; nicht zu diesem späten und verzweifelten Zeitpunkt.
Unterdessen hielt die Elektrische an Dr. Anton Wohllebens Endhaltestelle: Mit einem kleinen Ächzen klappten die Falttüren vor ihm nach innen, die Metallstufen schoben sich einladend zum dunklen Straßenasphalt hin auseinander – und von hier an untersagte er sich schroff jeden weiteren Gedanken an seinen schwierigen Fall. Er wollte den kurzen Spaziergang, der vor ihm lag, in vollen Atemzügen genießen. Seine Villa stand gleich über dem Lainzer Platz auf einem kleinen Hügel; Dr. Wohlleben hatte soeben umfangreich-komplizierte Renovierungsarbeiten hinter sich gebracht, durch die er sich ein wenig von der Traurigkeit abgelenkt hatte (es war jetzt bald vier Jahre her, seit seine Lenka gestorben war). Von der Elektrischen brauchte er bei gemütlichem Schlendern nicht mehr als ein paar Minuten in jene stillverträumte Gasse, in der er sein Zuhause wusste.
Einen Moment der Missgestimmtheit bescherte ihm der Reklamespruch, der ihm an der nächsten Plakatwand mit Riesenlettern ins Auge stach: »Almdudler-Limonade – beliebt auf allen sechs Kontinenten«. Daneben die Abbildung einer Flasche mit uringelbem Inhalt und einer roten Banderole; darunter war stilisiert ein Paar in grüner Tracht gezeichnet, das einen Ländler tanzte. Anton Wohlleben wandte mit Schaudern den Blick ab. Obwohl er Süßem ansonsten sehr zugetan war, verabscheute er dieses Gesöff: Almdudler schmeckte wie etwas, das eine greise Kräuterhexe unter hämischem Kichern in ihremrostigen Kessel zusammengerührt hatte (die Rezeptur wurde selbstverständlich geheim gehalten). Allerdings – beliebt war das Tschapperlwasser wirklich, der Werbespruch log nicht; sein Ruhm reichte weit über die Grenzen der Donaumonarchie hinaus. Sogar die Amerikaner, hieß es, zogen Almdudler ihrer einheimischen Limonade vor, dem sogenannten Root Beer. (Gab es dort drüben nicht auch ein Zuckerwasser, das »Loka Koka« hieß und angeblich echtes Kokain enthielt?) Dr. Wohlleben sprach der Firma Almdudler nicht das Recht ab, für ihren uringelben Kräutersaft Werbung zu treiben; trotzdem ärgerte er sich jedes Mal über dieses Plakat.
Es war eine laue Spätsommernacht, er sah sogar ein paar Sterne – der Mond, der bald seine volle runde Schönheit erreicht haben würde, segelte am Nachthimmel durch wildromantische Wolkenfetzen dahin. Anton Wohlleben summte leise ein Motiv aus der Oper vor sich her, die er gerade gehört hatte, eine Melodie, die in Wagner’scher
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