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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Auge des Besuchers vielmehr das Bild weiß gekalkter Nüchternheit. Damit spiegelte sie in gewisser Weise die Veränderungen wider, die sich seit dem Tode des Meisters zugetragen hatten. Nach 1939 hatte die Psychoanalyse sowohl Anhänger wie Gegner magisch angezogen; der Streit zwischen den Parteien wogte durch das 20. Jahrhundert hin und her wie die Gezeiten (Ebbe für die Psychoanalyse: die Siebzigerjahre, die Achtzigerjahre; seit den Neunzigern herrschte glücklicherweise wieder Flut), und Wien war darüber – wie jeder weiß – zur Welthauptstadt der psychologischen Forschung geworden. Und so viel dürfte klar sein: Wer seine Praxis nur drei Häuser von der Berggasse 19 entfernt unterhielt, der gehörte offenbar zu den Koryphäen der Zunft.
    Anton Wohlleben war, nebenbei bemerkt, kein Jude. Das muss vielleicht gesagt werden, weil die meisten Therapeuten – und nicht nur die Psychoanalytiker unter ihnen – zumindest nominell der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (oder einer anderen Judengemeinde) angehörten. Dr. Wohlleben indessen stammte aus einer altkatholischen Familie. »Du bist unser Paradegoj«, hatte ein Kollege aus Hannover bei einem Kongress im Scherz zu ihm gesagt und ihm auf die Schulter geschlagen; er hatte verlegen dazu gelacht, aber irgendwie stimmte es ja auch. Dr. Wohlleben war nicht nur ein anerkannter, er war auch ein guter Analytiker, was nicht unbedingt dasselbe ist. Er hatte Scharen von schüchternen Gymnasiasten kuriert, deren Fingernägel bis tief ins Nagelbett hinein blutig abgebissen waren; er hatte jungen Frauen geholfen, die in jeder weiblichen Vorgesetzten unfehlbar ihre Frau Mama erblickten.
    Sein spektakulärster Erfolg: Ihm war es gelungen, eine Erzherzogin von ihrer Kleptomanie zu befreien. Naturgemäß war dieser Fall mit äußerster Verschwiegenheit zu behandeln gewesen, man hatte ihn zur Konsultation jeweils im Schutze der Dämmerung in die Hofburg einbestellt. Er hatte der Hohen Frau nach vielen Sitzungen und Stunden geduldigen Zuhörens plausibel machen können, dass sie nicht darum Bernsteinkämme, silberne Kerzenhalter und Porzellanelefanten mitgehen ließ, weil sie dieser Gegenstände etwa so dringend bedurft hätte. (Die Kaufhausdirektoren in den Kronländern der Monarchie hatten schon – wenn man so sagen darf – alle Hände voll damit zu tun gehabt, jene Stibitzereien nicht zu bemerken und hinterher diskret ihre Rechnungen einzureichen; Kaufhausdetektive waren extra darauf trainiert worden, in eine andere Richtung zu blicken, wenn die Kaiserliche und Königliche Hoheit ihre niederen Gefilde betrat.) Nein, dieErzherzogin stahl deswegen, weil ihr kindliches Gemüt tief drinnen den Skandal wollte, weil sie die rot brüllenden Balkenüberschriften der Klatschpresse hinter ihrem eigenen Rücken herbeisehnte: Mit all seinen dunklen Kräften rüttelte das Es in ihr an den Gitterfenstern der guten, der allzu strengen Kinderstube, die ihre Eltern einst errichtet (wobei sie, versteht sich, nur die edelsten Absichten verfolgt hatten). Es war eine tränenreiche Erleichterung gewesen, als die Sache in kleinen Brocken endlich an die Oberfläche gespült wurde.
    Dr. Wohlleben hatte seine Patientin, während er einen vollendeten Hofknicks absolvierte, seinerzeit mit einem leicht abgewandelten Wort von Goethe trösten können: »Das Allgemeinmenschliche, kaiserliche Hoheit, bleibt halt niemandem erspart.«
    Die Erzherzogin, deren Namen wir hier vornehm verschweigen, war Wohllebens größter fachlicher Triumph gewesen. Ihm aber fiel jetzt, während durch die Nacht die hell erleuchtete Bahn heranfuhr – und damit fand seine Nachdenklichkeit am Ende nun doch einen fest umrissenen Gegenstand –, wieder jener Onkel von Thomas ein, dessen Fall ihm leider Kopfzerbrechen bereitete: Er dachte also an August Biehlolawek. Bei ihm handelte es sich nicht um die Sorte von Mensch, bei der man ohne Weiteres darauf käme, dass sie die Dienste eines Psychoanalytikers in Anspruch nehmen würde. August Biehlolawek war Diplom-Ingenieur, ein k. k. Sachverständiger und Konsulent mit einem beachtlichen Portefeuille, der vor allem damit beschäftigt war, durch die Provinzen zu reisen, Brücken auf ihre Stabilität zu überprüfen, Blaupausen zu studieren; er verfasste Gutachten über öffentliche Bauten von Lemberg bis Salzburg und von Triest bis Agram; für Neurosen, so hätte man meinen können, bliebeinem solchen Typus schlicht keine Zeit. Hinzu kam sein Äußeres. Diplom-Ingenieur August

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