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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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Visionen von einem »Trommler mit einem lustigen Bürstenbart«, wie er sich ausdrückte, dessen Trommel mit der Haut von Juden (warum Juden?) bespannt war. Flankiert wurde der Trommler von einem Riesen und einem Zwerg: Links von ihm stolzierte also ein opiumsüchtiger Fettwanst mit sieben Uniformen – »in keiner hat er ausgeschaut wie ein Mensch«, berichtete Biehlolawek schaudernd; zu seiner Rechten aber sei ein keifender Lügner mit Klumpfuß gehumpelt, ein kleinwüchsiger Teufel. Diesem Triumvirat folgte eine unüberschaubare Menge: lauter Reichsdeutsche (warum Deutsche?) und Deutschösterreicher, ein finsterer, schweigender, marschierender Menschenwald – »und alle haben sie das Kreuz des Antichrist vor sich hergetragen«. So hatte Biehlolawek wörtlich gesagt: das Kreuz des Antichrist. Was sollte das jetzt wieder bedeuten? Klar war jedenfalls:Welche Gestalten einem Träumenden auch im Schlaf erscheinen mochten – es handelte sich immer nur um verschiedene Masken seines eigenen Ich. Der schreckliche Trommler war darum auf vertrackt-unbewusste Weise kein anderer als der Diplom-Ingenieur selber, ebenso der rauschgiftsüchtige Riese und der brüllende Zwerg. Darüber hinaus wusste Dr. Anton Wohlleben sich und seinem Patienten heute Nacht keinen Rat mehr; er hatte mittlerweile auch seine Mahlzeit beendet – die Topfenknödel waren in der Tat ausgezeichnet gewesen – und beschloss also, das Grübeln fürs Erste sein zu lassen.
    Es stand nun aber im Terminkalender, dass August Biehlolawek ihm am nächsten Tag einen bezahlten Besuch abstatten würde. Sie trafen sich in aller Herrgottsfrühe, sehr zum Leidwesen des Therapeuten, der eigentlich nicht zur Gattung der Morgenmenschen gehörte; aber sein Patient wollte auf jeden Fall verhindern, dass seine Kollegen erführen, wie es psychisch um ihn bestellt war, folglich mussten die Sitzungen stattfinden, ehe er ins Bureau ging. So ruckelte der Diplom-Ingenieur also schon um halb sieben auf dem Sofa in der kahlen Praxis hin und her, während hinter seinem Kopfende die Psychoanalyse in Person von Dr. Wohlleben ihren Stift zückte. »Herr Doktor«, begann August Biehlolawek, »lieber Herr Hofrat, es ist etwas passiert.« Plötzlich bediente sich Biehlolawek der Hochsprache, wobei er jede Silbe künstlich betonte: »Gestern Nacht hat mir geträumt, dass etwas Schreckliches geschehen ist. In Auschwitz.« Wo? Auschwitz, ein Bahnknotenpunkt in Galizien
Hinweis
; ein fades Nest in der Provinz dort unten bei Krakau. Die Weltgeschichte hatte bisher einen großen Bogen um diesen Ort gemacht. Zu den Titeln des Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn und Böhmen gehörte freilich seit mehr als 200Jahren auch dieser: Herzog von Auschwitz. Und weiter? Was folgte daraus?
    »Im Traum habe ich geglaubt: Was dort angerichtet worden ist, das kann kein Mensch wiedergutmachen. Und Gott auch nicht«, sagte August Biehlolawek.
    Dr. Wohlleben fragte: »Können Sie sich denn noch an irgendein Detail erinnern? Was ist in Ihrem Traum dort unten geschehen?«
    »I waaß es ned«, antwortete Biehlolawek und korrigierte sich dann gleich: »Ich weiß es nicht. Nach dem Aufwachen hab ich alles sofort wieder vergessen g’habt.« Jetzt flüsterte er: »Herr Hofrat, es ist noch etwas anderes gewesen. Am Wannsee.« Anton Wohlleben sagte nichts und hörte nur zu. Nach einem Augenblick des Schweigens sagte Biehlolawek, der mit einem Mal in starke Mundart verfiel: »Es hot a Konferenz geb’n. In einer Villa am Wannsee. In die Vierz’gerjohr.« Hier ragte nun offenbar ein Restbestand von Realität in das Traumwahngebilde hinein. Am 20. Januar 1942 hatte in einer Industriellenvilla am Wannsee bei Berlin tatsächlich eine Konferenz getagt; dabei war es um etwas sehr Pragmatisch-Vernünftiges gegangen, die Kolonisierung des Mondes nämlich. Biehlolawek schaffte dann gerade noch ein »Jesus, Maria und Josef«, ehe er in Tränen ausbrach. Als sein Tränenfluss versiegt war, ließ Dr. Wohlleben ihn frei zu dem Ortsnamen »Auschwitz« assoziieren, aber mehr als »Bahnknotenpunkt« fiel seinem Patienten im Grunde auch nicht ein.
    Was sollte übrigens sein Gerede von den Juden? Soweit Dr. Wohlleben wusste – aber selbstverständlich musste er der Sache auf den Grund gehen –, gehörte der Diplom-Ingenieur nicht zur Schar jener Leute, die sich am Wochenende mit einer weißen Nelke im Knopfloch
Hinweis
zu Demonstrationen auf der Ringstraße versammelten. Wenn er ein Mitglied der »Antisemitenliga« war (die

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