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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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der Hand genommen worden – er konnte nur hoffen, dass sie irgendwo im Bauch des Busses auf ihn warteten. Außer ihnen dreienstiegen noch fünf andere Wissenschaftler zu; ihre Gesichter kamen Dudu vage bekannt vor. Von den fünf Herren hatten vier wilde, ausgefranste Vollbärte, einer entblößte beim Lächeln eine blitzende Zahnspange, und alle trugen sie karierte Hemden und keine Krawatten. Woher kam es eigentlich, sinnierte Dudu, dass die meisten Naturwissenschaftler (Ausnahmen wie er selbst bestätigten diese Regel nur) herumliefen wie ungemachte Betten?
    Nachdem der k. u. k. Hofastronom sein Hinterteil mit wohligem Ächzen in einem der weichen Sitze versenkt hatte, wandte er sich seinem Kollegen zu und bemerkte leutselig, indem er einen früher fallen gelassenen Gesprächsfaden wieder aufnahm: »Die Welt geht also unter, Herr Katz? Darüber müssen Sie mir mehr erzählen.«
    »Nee, Herr Geheimrat«, erwiderte Siegfried Katz kaltkurz, »ich will Sie nicht präjudizieren. Diesen Schiet müssen Sie sich schon selber ansehen.« Damit beugte er sich über ein paar Bögen mit Tabellen, die seine Assistentin ihm über den Gang zwischen den Sitzen hinweg reichte. Dabei warf sie Dudu Gottlieb hinter seinem Rücken ein verlegenes (übrigens auch bezauberndes) Lächeln zu; Dudu fing es mit den Augen auf und nickte.
    Das Verhalten von Siegfried Katz streifte die Grenze zur Unhöflichkeit nicht nur – es überwand diese Grenze hoch erhobenen Hauptes und mit sicherem Schritt; Dudu wusste nicht, ob er lachen oder schreien sollte. Auch hier auf dem Mond also! Auch hier war der Dünkel frisch und lebendig, mit dem die Jeckes, die assimilierten deutschen Großstadtjuden, seit jeher auf Galizianer herabgeschaut hatten: auf Ostjuden wie ihn. Sollte er sich denn seiner Herkunft wegen genieren? Sollte er sich schämen, weil sein Vater einen winzigen Kleiderladen in Lemberg betrieben hatte, während seine Mutter, eine ungebildete Hausfrau, im Hintergrund die Familiengeschicke mitsicherer Hand lenkte; sollte er um Verzeihung bitten, weil bei ihnen zu Hause der verachtete Jargon gesprochen worden war, jene wilde weiche Mischung aus Mittelhochdeutsch, Polnisch und Hebräisch? Deutsch spricht man, ober Jiddisch redt sach. A gesint af dain keppele! Oder sollte ihm peinlich sein, dass er sehr fromm aufgewachsen war, mit Kerzenzünden an jedem Freitagabend, den Gott werden ließ, und Fasten am hohen Feiertag? Er dachte ja gar nicht daran. Hatte man bei ihnen zu Hause denn nicht Friedrich Schiller gelesen, waren sie etwa weniger kultiviert als ihre Vettern im Deutschen Reich? Was für eine lachhafte Anmaßung!
    Während der Elektromotor ansprang und das Gefährt von innen heraus sanft zum Vibrieren brachte, erinnerte Dudu Gottlieb sich an den Grabstein seiner Mutter und seines Vaters auf dem großen Judenfriedhof von Lemberg – beide waren leider viel zu früh gestorben. Er erinnerte sich an den dunklen kleinen Laden, in dem er nach der Schule oft seine Hausaufgaben gemacht hatte; an den angenehm dumpfen Geruch zwischen den Anzügen und Abendkleidern von der Stange; an den hellen Zweitonklang, mit dem die Glocke an der Eingangstür anschlug, wenn Kundschaft kam. Unterdessen gab der Bus sich einen Ruck; dabei schwenkte er auf jene breite Piste ein, die zwischen tiefen Kratern und Staubhügeln hindurch im Zickzack auf die erdabgewandte Seite des Mondes führte. Und weil die Fahrkabine zwischen den Riesenrädern rhythmisch auf und nieder schaukelte, schlief Dudu bald so tief und so fest, wie nur Leute schlafen können, die im Grunde reinen Herzens sind.
    Die erdabgewandte Seite des Mondes wird von schlecht informierten Menschen gelegentlich als dessen dunkle Hälfte bezeichnet. Das ist Unsinn; in Wahrheit gleißt dasGestein dort sogar heller als auf jener Seite des Erdtrabanten, die sich ständig unserem blauen Planeten zuwendet. Und immer dann, wenn auf der Erde Neumond herrscht, wird die erdabgewandte Seite des Mondes im Sonnenlicht förmlich gebadet. Also: dunkel ist es dort oben und dort hinten nicht – aber still. Keine elektromagnetische Welle, die von der Erde ausgestrahlt wurde, ist je auf der anderen Seite des Mondes angekommen. Keine Radio- oder Fernsehsendung kann dort empfangen werden: Der Mond selbst wirkt als massiver Schutzschirm, der den Äther vor menschlicher Verunreinigung bewahrt. Darum hatte es sich im Zuge der Kolonisierung des Mondes eigentlich von selbst verstanden, dass im Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskrater (dem Krater

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