Der Komet
ließen seine Gefährten ihm keine Zeit für sein kleines Ritual. Nachdem Dudu Gottlieb seine Koffer abgestellt und sich mit beiden Händen ein bisschen Wasser in sein bärtiges Gesicht geklatscht hatte, drängte Siegfried Katz ihn sofort, sich »die Bescherung« (seine Worte) im optischen Teleskop anzuschauen. Also schaute Dudu. Und er sah das Verhängnis, das aus der Tiefe des eiskalten Raumes auf sie zustürzte: den Kometen auf Kollisionskurs.
Es vergingen Tage. Es verstrichen Wochen. Wochen dehnten sich zu Monaten – morgens stand Dudu Gottlieb auf, und nachdem er sein Morgengebet verrichtet und gefrühstückt hatte, ging er zur Arbeit in die Sternwarte. Zu Mittag und zu Abend aß er in seiner mönchisch karg eingerichteten Stahlzelle, in der es außer einem Bett, einem Tisch und einem Bücherregal immerhin auch eine Kochnische gab (die Kantine der Sternwarte kam – obwohl dort gar nicht schlecht gekocht wurde! – für Dudu nicht infrage, da sie nicht koscher war). Jeden Abend (außer am Schabbes, versteht sich) sprach er per Bildtelefon mit seiner Frau und seinen Töchtern im I. Bezirk in Wien. Einmal pro Woche kaufte er in dem großen Feinkost- und Kolonialwarenladen ein, der zu dieser wissenschaftlichen Einrichtung gehörte und hervorragend sortiert war; gewiss, das Gemüse kam aus der Tiefkühltruhe, das Obst war nicht mehr ganz frisch, aber Dudu fand, während er seinen Wagen im Neonlicht elegant durch die Regalreihen steuerte, koschere Salami aus Ungarn, Salzgurken aus Ost-Galizien und sogar Pastróme aus Siebenbürgen. Dreimal in der Woche ging Dudu Gottlieb in den Gymnastikraum. Das war nicht etwa Luxus, sondern Pflicht; wer hier oben, wo nur ein Sechstel der irdischen Gravitationherrschte, keine regelmäßigen Übungen zur Stärkung der Muskulatur veranstaltete, der bezahlte dies schon bald mit verheerendem Muskelschwund.
Jeden Freitagabend zündete Dudu Gottlieb zwei Kerzen an, jeden Samstagvormittag hüllte er sich in seinen Gebetsschal. Zur Sternwarte gehörte selbstverständlich auch ein Andachtsraum, der am Freitag – wenn etwa eine Delegation aus dem Osmanischen Reich hier oben zu Gast war – als Moschee diente, sich am Sonntag flugs in eine Kirche verwandelte und zwischendurch am Samstag zur Synagoge wurde. (An den Wänden waren nichts als schwungvoll-abstrakte Ornamente zu sehen; damit konnten alle Religionen gut leben.) Meistens kam am Schabbes ein minjon zusammen, also das Quorum von zehn erwachsenen jüdischen Männern, das notwendig ist, um einen Gottesdienst abzuhalten; sogar Siegfried Katz, dieser Schmock, ließ sich dann blicken, obwohl er seinen Atheismus ansonsten vor sich hertrug wie eine Flagge, die heroisch knatternd im Wind des Aberglaubens weht; auch wehrte Katz jedes Mal mit hoch erhobenen Händen ab, wenn man ihn zur Thoralesung aufrufen wollte. (Der Thoraschrein, ein hölzerner Schrank mit Rädern, der den Pentateuch – die fünf Bücher Mosis – auf einer Pergamentrolle enthielt, wurde jeden Freitagnachmittag, wenn die Muslime mit ihren Gebeten fertig waren, unfeierlich hereingerollt und am Samstag zur Nacht wieder in einer Vorratskammer verstaut.) Meistens betete Dudu Gottlieb vor, obwohl er keine schöne Stimme hatte, denn er kannte sich am besten von allen Versammelten im Ritus aus.
An dieser Stelle werden nun alle, die sowohl in Fragen des jüdischen Religionsgesetzes als auch in Astronomie bewandert sind, eine kluge Frage stellen: Nach welchem Kalender richtete Dudu sich eigentlich? Der Tag dauert auf dem Mond ein wenig mehr als 29 Erdentage (eben:einen »Monat« lang). Der Schabbes aber beginnt nach jüdischem Gesetz am Freitagabend, wenn die ersten drei Sterne am Himmel sichtbar geworden sind, und er dauert bis zum nächsten Sonnenuntergang. Wie, bitte schön, sollte diese Regelung auf dem Mond funktionieren? Dudu hatte das Problem lange mit Prof. Dr. Adolf Brandeis, dem Oberrabbiner von Wien, hin- und hergewälzt; und Rabbi Brandeis hatte endlich kraft seines Amtes entschieden, dass für Dudu Gottlieb auch auf dem Monde die Wiener Ortszeit galt. Er trug sie sozusagen in seinem Inneren mit sich herum: wenn sich auf Wien der Frieden des Sabbat senkte, dann zugleich auch auf Dudus Seele, obwohl sie weit von den Seinen entfernt weilte. Wo Dudu Gottlieb war, dort war Österreich-Ungarn.
Kann man behaupten, dass Dudu Gottlieb seinen Kindern und seiner Frau alles erzählte, wenn er am Bildtelefon mit ihnen sprach? Nein, das kann man nicht behaupten. Es ist nun nicht
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