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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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mit dem größten Radius, der beinahe genau in der Mitte dieser Mondhälfte klaffte) eine ganze Batterie von Radioteleskopen aufgestellt wurde. Mit ihren Ohrmuscheln aus Metall lauschten diese Teleskope in die Tiefe des Raumes hinein; sie hörten das elektromagnetische Rauschen und Krachen ferner Sonnen, Pulsare und Quasare; und wegen der verwirrenden Natur des Universums lauschten sie zugleich zurück in die Zeit – immer weiter, immer weiter – bis zu der Minute, da der erste Mensch seine Frau beim Namen gerufen hatte, bis zurück ins Zeitalter der Dinosaurier und noch darüber hinaus, Äonen um unvorstellbare Äonen, bis Sekundenbruchteile vor dem Augenblick des Urknalls. Der fromme Mann, der Dudu Gottlieb in seinem Innersten war, glaubte fest daran: Dies war der Moment, in dem Gott sein großes »Es werde!« gesprochen hatte.
    Auf der abgewandten Seite des Mondes stand aber auch eine große Sternwarte mit einem optischen Teleskop. Durch konvexe und konkave Linsen fing es das Licht der Gestirne auf und bündelte es in einem gewaltigen Spiegel – Licht, das nicht flimmerte, weil es auf demMond keine Atmosphäre gab, Licht, dem kein Blitzen von der Erdoberfläche dazwischenfunkte. Mittels einer sinnreichen Maschinerie konnte das optische Teleskop in der Sternwarte wie ein Kreisel nach allen Seiten hin geschwenkt werden. Und zusammen bildeten diese Instrumente der Himmelsbeobachtung das »Albert-Einstein-Observatorium auf der erdabgewandten Seite des Mondes«, kurz auch A.E.O. genannt.
    Für Dudu Gottlieb war es jedes Mal eine ergreifende Vorstellung, dass der alte Mann hier seine letzten Tage verbracht hatte. Albert Einstein, ein jüdischer Schwabe, Sinn- und Urbild des verschrobenen Genies, tiefgläubiger Agnostiker, Mitglied der preußischen und bayerischen Akademie der Wissenschaften, geliebt in seiner Heimat, bewundert auf der ganzen Welt bis zu seinem Tode – Einstein hatte auf dem Mond über seine einheitliche Feldtheorie nachgegrübelt, die wie eine Fata Morgana über den Horizont unserer Unwissenheit herüberschimmert, ohne dass wir ihr je entscheidend nähergekommen wären (die Physiker jagten ihr immer noch nach wie einer Oase in der Wüste: so wissensdurstig wie vergeblich). Einstein, der Struwwelpeter! Mit seinem weißen Haar, das nach allen Seiten auseinanderfuhr, mit seinem buschigen Schnurrbart sah auch dieser Naturwissenschaftler geradezu programmatisch ungepflegt aus. Er hatte dem Krachen und Knistern der fernen Sterne zugehört, hatte im Sitzen meditiert und war auf der Mondoberfläche herumgehüpft, übermütig wie das große Kind, das er zeit seines Lebens geblieben war.
    Am Anfang des 20. Jahrhunderts war der Wissenschaft plötzlich die Welt unter den Händen auseinandergebrochen: Die physikalischen Modelle des Makrokosmos und des Mikrokosmos passten seither nicht mehr zueinander. Mit der einheitlichen Feldtheorie versuchte Einstein, diebeiden Hälften wieder zusammenzufügen. Auf welchen gemeinsamen Nenner konnten Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache atomare Kräfte gebracht werden? Während Einstein darüber nachdachte, hatte sich eine Ader in der Nähe des Herzens gefährlich zu einem Ballon aufgebläht. Und weil es hier oben damals noch keine Krankenhäuser gab, in denen man ein Aneurysma hätte reparieren können, war Albert Einstein, geliebter Sohn des deutschen wie des jüdischen Volkes, anno 1955 auf der erdabgewandten Seite des Mondes gestorben.
    Er lag unter einem dunklen Molassestein aus seiner Heimatstadt Ulm begraben, den man extra heraufgeflogen hatte. Unter normalen Umständen hätte Dudu Gottlieb gleich nach der Ankunft in seinem kargen Quartier seinen Skaphander angezogen und wäre zu Einsteins Grab gepilgert. Es lag gleich jenseits des Kaiser-Wilhelm-Kraters; wenn man ein paar Schritte über seinen wulstigen Rand hinausschwebte, stand man schon unter dem endlos freien schwarzen Himmel vor einer flachen Grabplatte. Auf Mittelachse geordnet, war dort nur das Nötige eingraviert:
    Albert Einstein
    14. März 1879 – 18. April 1955
    »Gott würfelt nicht«
    Dudu Gottlieb hätte einen Moment vor der Steinplatte aus Ulm verharrt: eine einsame Gestalt in einem Skaphander, das hohle Geräusch des eigenen Atems überlaut in seinem Glashelm. Nach ein paar Minuten hätte er, wie es jüdischer Brauch ist, dem großen Gelehrten einen Kiesel als Andenken auf das Grab gelegt, einen handtellergroßen,gezackten, von keiner Erosion abgeschliffenen Mondstein. Aber dieses Mal

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