Der Komet
Assistentin mit dem interessanten Vornamen Selene – ihr Nachname lautete übrigens ganz banal: Schneider – hatten Dudu Gottlieb keine Zeit gelassen. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, nach der Strapaze der Reise einen kleinen Moment lang zu verschnaufen, also hatte er dieses Mal keine Muße gehabt, die Wunder der Mondstadt auch nur zu bestaunen. Die Mondstadt – das war ein anarchisch ineinander verschachteltes Konglomerat von Luxushotels, die deutsche Ingenieurskunst nach und nach in den Sand der luftlos-dunkelgrauen Mondwüste gesetzt hatte. In mehr als einem Dutzend glitzernder Etablissements konnte man sich Glücksspielen hingeben oder bei einem Sechstel der irdischen Schwerkraft raffinierte Gymnastik betreiben; selbstverständlich fischten zwischen den Roulette- und Baccara-Tischen auch Huren der gehobenen Preisklasse nach Kundschaft. Ihre beachtlichen Busen wogten auf dem Mond noch wilder im Dekolleté, als sie das auf der Erde getan hätten. Deutlich weniger sündhaft gab sichein Komplex der Mondstadt, der als Privatsanatorium für Gehbehinderte ausgewiesen war: Hier oben warfen diese Bejammernswerten ihre Krückstöcke weg, stießen forsch die Rollstühle von sich und erlernten mit spitzen Schreien des Entzückens den aufrechten Gang neu.
Die größte Attraktion der Mondstadt aber bot das »Hotel Römertherme«, das eine sehr moderne Rekonstruktion der Thermen des Caracalla unter dem ewig nachtschwarzen Weltraumhimmel war – mit einem erstaunlichen Extra: In der Mitte des Hotels befand sich ein sehr langes, sehr breites Schwimmbad, in das man von Türmen hineinspringen konnte, die wohl an die fünfzig Meter über den Beckenrand aufragten. Die Stürze vollzogen sich auf dem Mond ja quasi in Zeitlupe, Unfälle waren mithin nicht zu befürchten. Auf dem Mond zu schwimmen war ein doppeltes Abenteuer: Das Wasser fühlte sich zwar noch ganz und gar wie Wasser an, sah aber zähflüssig aus wie Gallerte; es schlug träge Blasen im Licht und senkte sich, war es einmal in die Höhe gespritzt, nur widerwillig wieder zum Boden hinunter. Kristallklare Bögen von Tropfen zitterten manchmal minutenlang in der Luft nach. Gleichzeitig wurden die Bewegungen nicht mehr vom Wasser verlangsamt, besänftigt und gemildert wie auf der Erde: Die Schwimmer schossen vorwärts wie lebendige, keuchende Torpedos mit Haut und Haaren – und fanden es oft schwer, überhaupt im Wasser zu bleiben. Wenn ihre Körper über die Wasseroberfläche hinausglitten, so schwebten sie im Fluge über das Nass dahin und fielen nur allmählich, wie in einem Traum, wieder in ihr Element zurück. Es war ein überraschendes, ganz neuartiges Körpergefühl, in dem Lust und Angst dicht beieinander wohnten; und wer es einmal ausprobiert hatte, der wurde schnell süchtig danach.
Einmal am Tag aber, am Mittag um Punkt zwölfUhr – selbstverständlich rechnete man in der Mondstadt nach Berliner Zeit –, wehten plötzlich die Klänge eines klassischen Streichorchesters durch das Schwimmbad. Das war der Moment, wo die Hoteldirektion für eine Stunde jene Decke aus Titaniumstahl öffnen ließ, die sich zur Sicherheit über das Schwimmbecken spannte: Sie schob sich auseinander wie eine Fotolinse, sodass nur noch eine Glaskuppel die Schwimmer von dem gnadenlosen Vakuum zu ihren Häuptern trennte. Und dann hing in der erhabenen Dunkelheit des Alls über ihnen die zerbrechliche Kugel, die ihrer aller Heimat war – Kontinente, Meere, weiße Wolkenwirbel; manchmal sah man die Erde nur halb, manchmal als schmale blaue Sichel.
Es gab Gäste des »Hotels Römertherme«, die bei diesem Anblick in Tränen ausbrachen. Wer wollte es ihnen verdenken?
Nichts von alldem, wie gesagt, bekam Dudu Gottlieb zu Gesicht. Sein Begleiter und seine Begleiterin lotsten ihn quasi ohne Überleitung – nicht einmal einen Kaffee hatten sie ihm angeboten – durch einen Seitenkorridor zum Bus. Dieses Gefährt war für Wissenschaftler reserviert, die auf der erdabgewandten Seite des Mondes zu tun hatten, und bot Platz für zwei Dutzend Passagiere. Seine Räder waren übermannshoch und von dicken Gummireifen eingefasst. Zwischen ihnen war an enormen Stahlfedern auf halber Höhe die Passagierkabine aufgehängt, die wie ein heller Dominostein mit Bullaugen aussah; vorne beulte sich eine runde Glaskabine für den Chauffeur aus. Man betrat den Mondbus durch eine Luftschleuse – und erst, als Dudu sie passiert hatte, fiel ihm plötzlich auf: Seine Gepäckstücke waren ihm schon wieder aus
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