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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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sprechen.
    Der schwarzhaarige Kellner mit dem Fliegenbärtchen auf der Oberlippe, der hier im Café Central selbstverständlich »Ober« gerufen wurde und eine Uniform trug (grüne Jacke, gestärktes weißes Hemd, dunkler Seidenschmetterling unterhalb des Adamsapfels) – der Kellner nahm neben ihrem Tisch Aufstellung, zückte seinen Block und sagte zur Begrüßung: »Bitte sehr!« Dr. Wohlleben bestellte eine Schale Gold
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, der Rabbi nahm einen Piccolo
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; Heinrich Grausenburger ließ sich zum großen Schwarzen
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ein paar Buchteln mit warmer Vanillesauce servieren.
    »Stellt euch vor, was mir passiert ist«, eröffnete Prof. Dr. Brandeis die philosophische Fachdebatte, »als ich in der Hofoper war – ›Rigoletto‹, danke der Nachfrage, sehr schön –, also, wisst ihr, wen ich da getroffen habe? Die Andrea.«
    Seine ehemaligen Kommilitonen schwiegen betroffen. In Andrea Bärwald waren sie einmal alle drei verliebt gewesen; Heinrich Grausenburger hätte ihretwegen beinahe seine Priesterweihe verpatzt. Sie war dann nach Agram gegangen und hatte dort einen Elektromobilgroßhändler geheiratet. »Was für ein Zufall, dass die mir ausgerechnet gestern in der Oper über den Weg läuft«, fügte der Rabbiner dann langsam und nachdenklich hinzu (und als Wohlleben und Grausenburger ihn mit Fragen bestürmten, antwortete er: »Grau ist sie geworden, hübsch hat sie ausgesehen, nett ist sie gewesen, aber Grüße an euch Haberer, Pardon, hat sie mir nicht aufgetragen«). Damit hatten die Hofräte – wiewunderbar – ihr Thema für diesen tarockfreien Nachmittag gefunden. Nein, nicht die Liebe (was für ein abgeschmacktes, banales Sujet!), sondern: den Zufall. Gibt es ihn überhaupt oder handelt es sich gewissermaßen nur um eine optische Täuschung, also einen Streich, den unsere Wahrnehmung uns spielt; und welche Rolle nimmt der – echte oder nur aus Gründen der gedanklichen Verlegenheit sogenannte – Zufall in unserem Leben ein? Unterdessen servierte der Kellner auf drei silbernen Tabletts (eines davon balancierte er robust auf dem rechten Unterarm) ihre Getränke und Speisen. Während der Kardinal von Wien seine erste Buchtel mit einer kleinen Gabel zerteilte und die Brocken in die weiße Sauce tauchte, dozierte er: »Die Stoiker waren der Meinung, dass alles in der Natur von den Naturgesetzen, von einer ehernen Notwendigkeit gelenkt wird, der man sich gefälligst zu ergeben habe. Daher die berühmte stoische Ruhe. Es hat gute, sogar sehr gute Leute unter ihnen gegeben: Cicero, Seneca, den Kaiser Marc Aurel, der höchstwahrscheinlich – wie passend – als ein Wiener gestorben ist. Alles Feinde der Tyrannei; alles Freunde der Schwachen und Unterlegenen.«
    »Sie haben trotzdem Unrecht gehabt«, erwiderte der Rabbi. »Es gibt den Zufall nämlich wirklich. Die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts hat ihn entdeckt.« Die Gattin von Adolf Brandeis lehrte theoretische Physik an der Universität Wien – der Rabbi verstand es, diesen Umstand immer wieder als glitzernde Girlande in seine Gespräche einzuflechten. »Meine Frau hat mir erklärt, dass wir seit Max Planck und seiner Quantenmechanik wissen: Die Welt ist keine Großvateruhr, die Gott am Schöpfungstag aufgezogen hat und die seither mechanisch-gemütlich herunterschnurrt.«
    »Was denn, wie denn«, warf der Agnostiker AntonWohlleben ironisch-gemütlich ein, »Gott würfelt also doch?«
    »Nein«, antwortete der Rabbi, »Gott würfelt naturgemäß nicht. Aber er hat eine Welt erschaffen, die selber würfelt. In einer Tour. Unaufhörlich.«
    »Also, mir ist das zu abstrakt«, sagte Heinrich Grausenburger, der mittlerweile schon seine zweite Buchtel heruntergeschlungen hatte. »Ich bin aus Oberösterreich, ich muss mir das, bitte, ganz praktisch vorstellen. Also: Da ist ein Fensterbrett, sagen wir, im fünften Stock, auf dem Fensterbrett steht eine Blumenvase. Unter dem Fensterbrett geht jemand vorbei. Ein Windstoß kommt, die Vase kippt vom Fenster herunter und fällt dem Spaziergänger auf den Kopf. Zufall? Oder haben sich da nur zwei Kausalketten blöd ineinander verhakt?«
    Der Kardinal nahm seine dicken Finger zu Hilfe, um die Kausalitäten einzeln an ihnen abzuzählen: »Erstens, die Vase kippt wegen dem Wind; zweitens, der Wind weht, weil sich der Luftdruck verändert hat; drittens, der Luftdruck hat sich verändert, weil auf Sonnenschein Regen gefolgt ist; viertens, auf Sonnenschein ist Regen gefolgt, weil sich Wolken gebildet haben, weil sie

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