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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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… und auf die Revolution der Bürgerkrieg … und auf den Bürgerkrieg die Diktatur einer Einheitspartei mit einem absurden Namen. Hieß sie nicht »Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken der Gesetze«? Jedenfalls dauerte ihre Herrschaft in Mexiko nun schon viel zu lang. Franz Joseph II . erlaubte sich, hell zu träumen: Was wohl gewesen wäre, wenn sein Urgroßonkel und Benito Juarez zu einem Ausgleich gefunden hätten? Schließlich hatten sie mit ihren Vorstellungen, wie ein unabhängiges Mexiko aussehen sollte, gar nicht so weit auseinandergelegen – Benito Juárez hätte sich halt nur bereitfinden müssen, als liberaler Premierminister unter einem Habsburger zu dienen. Wäre Mexiko dadurch nicht viel Schlimmes erspart geblieben, nämlich hundert Jahre der Diktatur? Diktatoren vertrugen sich traditionsgemäß schlecht mit der Monarchie: Sie duldeten keine anderen Herrscher neben oder über sich. Vielleicht, dachte der Kaiser betrübt, war das Schicksal Mexikos in dem Moment besiegelt gewesen, als das Exekutionskommando auf den armen Maximilian I. anlegte und der Hauptmann »Feuer!« schrie – vielleicht handelte es sich hier um einen Fluch von tragisch-antikem Ausmaß, der die Generationen überdauerte.) Aber wie verhielt es sich denn nun mit der Formel A.E.I.O.U.? Jene Deutung, die dem Kaiser am ehesten einleuchteteund zusagte, lautete sehr einfach: Austria erit in orbe ultima. Wörtlich übersetzt: Österreich wird bis zuletzt im Erdkreis sein – oder in besserem Deutsch: Österreich wird als Letztes untergehen.
    So stimmte es, so war es richtig – die Donaumonarchie würde bis ans Ende der Geschichte weiterbestehen. Denn was war dieses Österreich-Ungarn, wenn man es historisch betrachtete? Es handelte sich um jenen Seitenflügel eines ehemals gewaltigen Gebäudes, der heute noch stand: des Heiligen Römischen Reiches (samt einigen architektonischen Anbauten in südöstlicher Richtung). Und das Heilige Römische Reich war im Frühmittelalter seinerseits aus den Trümmern des alten Imperium Romanum errichtet worden. Sollte in einem künftigen weltgeschichtlichen Erdbeben auch der letzte Gebäudeteil, auch die österreichisch-ungarische Monarchie noch in Schutt und Ruin sinken, dann gnade uns Gott bzw. Allah. Dann konnte nur noch eines nachfolgen: die Herrschaft des Antichrist. Davon war der Kaiser bis tief in sein Innerstes überzeugt.
    Vier Weltreiche hatte der jüdische Prophet Daniel in babylonischer Gefangenschaft in einer berühmten Vision gesehen; drei davon waren längst verwelkt und vergangen. Nur das vierte Weltreich, das Imperium Romanum, existierte noch – in gewisser Weise, in abgewandelter Form. Wenn man das Habsburgerreich als seine legitime und christliche Fortsetzung begriff. Sollte es jemals untergehen, würde das Ende der Welt anbrechen. Franz Joseph II . glaubte fest an diese Prophetie: nach uns die Apokalypse, dachte er in seinem kargen Bureau in Schönbrunn.
    Mit diesem Gedanken, der ihn mahnend an seine Pflicht erinnerte, gelang es ihm endlich, seiner Schwermut Herrzu werden; nach eineinhalb Stunden der schimpflichen Prokrastiniererei
Hinweis
setzte er sich zu seinen Tagesgeschäften nieder. Just in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und sein Oberstkämmerer, der nun auch schon ein älterer Herr war, stürmte herein (was sonst überhaupt nicht seine Art war). »Majestät«, sagte der Oberstkämmerer bestürzt, »ein Urgenzschreiben vom Mond. Das Telegramm trägt den Vermerk: Höchste Stufe der Dringlichkeit und stammt vom Hofastronomen Geheimrat Gottlieb persönlich.« Die Angelegenheit schien keinen Aufschub zu dulden. Franz Joseph II . erhob sich, um das Schreiben in Empfang zu nehmen; er schlitzte im Stehen mit dem Daumennagel den Umschlag auf, las, konnte nicht glauben, was er da gelesen hatte, las also von Anfang an noch einmal, und dann gaben unter ihm die Knie nach, sein Oberstkämmerer musste ihn stützen, bald wurden ihm stärkende Herztropfen gereicht. Der Kaiser fasste sich und griff zum roten Hoftelefon.
    So kam es, dass eine knappe Woche später sein kummervolles Antlitz auf allen Bildschirmen der Donaumonarchie erschien. (Vorausgegangen waren Konsultationen mit den Ministerpräsidenten aller Kronländer sowie quälende Beratungen mit Gräfin Andrássy, die der Monarchie als Außenministerin diente.) Jeder kannte dieses Gesicht – die dünnen, grauen, glatt zurückgekämmten Haare, die melancholischen Augen, die geschwollenen Tränensäcke, die

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